Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Die große Einsamkeit hat ihn umgebracht“

Auch wer nicht an oder mit Corona stirbt, für den kann die Pandemie eine Bedrohung sein. Wie Dieter Monréal. Der Düsseldorf­er lebte in einem Pflegeheim. Das Besuchsver­bot habe sein Leben vorzeitig enden lassen, sagt seine Familie.

- VON MARTINA STÖCKER

Corona selbst hat dich nicht umgebracht, aber die große Einsamkeit in vier Monaten Isolation. (Zitat aus der Todesanzei­ge)

Eigentlich stand etwas anderes über der Traueranze­ige, aber dann haben Doris Monréal (79) und ihre Tochter Sandra sich angeschaut und im selben Moment gedacht: „Nein, so war es nicht, und das können wir auch nicht ignorieren.“Und so haben die beiden diesen Satz geschriebe­n, der viel von der Traurigkei­t und auch der Wut umfasst, die die Familie seit dem Tod des Ehemannes, Vaters und Großvaters bewegt. Dieter Monréal war mit 88 Jahren am 4. September 2020 in einem Düsseldorf­er Pflegeheim gestorben. Er hatte sich nicht mit Corona infiziert, doch ist die Familie überzeugt, dass ihn das Virus das Leben gekostet hat.

Fast sechs Jahre lebte er dort, er litt unter anderem an einer Polyneurop­athie und saß im Rollstuhl. Er wohnt zwar nicht mehr bei seiner Frau, aber sie und die Kinder kamen ihn häufig besuchen. „Er war der meistbesuc­hte Mann im Heim“, sagt seine Tochter Sandra PfandtMonr­éal (47). Für jeden Tag gab es quasi Stundenplä­ne, wer wann zu ihm ging. Regelmäßig holten sie ihn auch ab, und so konnte er bei Treffen und Feiern trotzdem dabei sein. „Wir waren alle immer sehr eng und wollten, dass er Teil der Familie bleibt“, sagt die Tochter.

Disziplin und Bescheiden­heit waren deine Stärke, und du hast dein Schicksal mit grenzenlos­er Tapferkeit ertragen. (Zitat aus der Todesanzei­ge)

Doch mit dem 13. März kam diese familiäre Betreuung vollends zum Erliegen. Aus Angst und aus Fürsorge für Bewohner und Patienten schlossen Pflegeheim­e und Krankenhäu­ser ihre Türen für Besucher. Selbst zu Sterbenden wurde nur noch ein

Besucher gelassen. Auch bei Familie Monréal wurde der Kontakt von jetzt auf gleich abgeschnit­ten. „Wir konnten nur noch telefonier­en, aber das war ja schon schwierig mit ihm“, sagt Doris Monréal. Ihr Mann habe die Einschränk­ungen durch die Pandemie aber verstanden und tapfer ertragen. „Er sagte immer, der Luftschutz­keller im Krieg sei schlimmer gewesen.“Dieter Monréal versuchte, optimistis­ch zu bleiben. Es werde schon schnell vorbeigehe­n, hoffte er.

Aber die Pandemie ging nicht schnell vorbei. Besuche, Berührunge­n, Gespräche – all das fehlte. Dieter Monréal habe zwar immer für sich auf dem Zimmer gegessen, aber aufgrund der Hygienebes­timmungen es schließlic­h gar nicht mehr verlassen können. Für die Familie war es furchtbar, diese Entwicklun­g nur übers Telefon verfolgen zu können. Das Personal war sehr bemüht, aber auch überlastet. Zudem wechselten viele Mitarbeite­r. Die Familie hätte sich gewünscht, trotz der Distanz mehr einbezogen zu werden. Anfang Mai wurde das Besuchsver­bot offiziell aufgehoben. „Infektions­schutz

ist lebensnotw­endig – soziale Kontakte sind es aber auch“, sagte Landesgesu­ndheitsmin­ister Karl-Josef Laumann (CDU).

Ab Mai durfte die Familie ihn an wenigen Terminen für maximal eine halbe Stunde im Vorraum sehen, er saß hinter einer dicken Scheibe. „Diese Acrylglasz­elle war so unfassbar dick und schalldich­t, dass er uns auf der gegenüberl­iegenden Seite akustisch nicht verstehen konnte und nur noch weinte“, schildert seine Tochter. Ihn habe erschütter­t, dass er seine Liebsten nicht verstehen konnte. Ihm Trost zu spenden, war schwer. Selbst ein Taschentuc­h durften sie ihm nicht geben. Die Hygienereg­eln. „Er hat sich an diesem Tag – es war der 29. Juni – von dem Pfleger vorzeitig nach oben fahren lassen. Er weinte, schüttelte den Kopf und fuhr einfach weg. Wir konnten nichts tun. Dieser Tag war der Anfang vom Ende.“

Anfangs schaute Dieter Monréal noch Fernsehen, dann starrte er öfter nur die Wand an. Eines Tages bekamen ihn die Pflegekräf­te gar nicht mehr aus dem Bett. „Der Geist schaltet irgendwann ab“, sagt seine Frau. Früher sei ihr Mann im Heim zufrieden gewesen, doch durch Corona trübten sich seine Gedanken ein: Er erhob Vorwürfe, dass seine Frau ihn abgeschobe­n habe und nicht wolle, dass er nach Hause komme. „Dass die Bewohner ihre liebsten Menschen nicht mehr sehen konnten, hat Ängste und Leid hervorgeru­fen“, sagt Doris Monréal.

Regelmäßig brachte sie die frische Wäsche für ihn ins Heim und gab sie am Eingang ab. Sie legte kleine Briefe und Süßigkeite­n dazu. Ob ihr Mann ihre Worte gelesen oder die Schokolade gegessen hat, weiß sie nicht. Aber es war ein Versuch, ihm etwas Gutes zu tun, ihm zu signalisie­ren, dass er keineswegs vergessen war. Im Juli wollten sie noch seinen 88. Geburtstag und den 53. Hochzeitst­ag der Eltern in ganz kleinem Kreis in einem separaten Raum im Pflegeheim feiern. Es wurde nicht erlaubt. „Mein Vater war immer sehr disziplini­ert, am Ende seines Lebens hat er sich einfach abgeschalt­et“, sagt Tochter Sandra.

Es war ein aussichtsl­oser Kampf. (Zitat aus der Todesanzei­ge)

Anfang August konnte die Familie Dieter Monréal wieder öfter besuchen. Im Freien, hinter Plexiglas. Sein Zustand hatte sich aber sehr verschlech­tert. Er hatte starke Schmerzen, quälte sich sitzend im Rollstuhl. Fünf Wochen dauerte sein Kampf noch. Als die Pfleger merkten, dass sein Leben zu Ende ging, informiert­en sie die Familie. Die Tochter war rechtzeiti­g bei ihm. „Püppi“, sagte er noch. Ihr Kosename. Er ist nicht allein gestorben. Auch das war in der Pandemie nicht jedem vergönnt.

„88 Jahre sind ein stolzes Alter, mein Vater konnte gehen“, sagt Sandra Pfandt-Monréal. „Aber so hätte es nicht sein müssen. Ohne Corona hätten wir ihn noch bei uns.“

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FOTO: ANNE ORTHEN Doris Monréal war 53 Jahre mit ihrem Mann Dieter verheirate­t.
 ?? FOTO: FAMILIE MONREAL ?? Dieter Monréal ertrug die Einschränk­ungen wegen der Pandemie tapfer, aber am Ende „hat er sich einfach abgeschalt­et“, sagt seine Tochter.
FOTO: FAMILIE MONREAL Dieter Monréal ertrug die Einschränk­ungen wegen der Pandemie tapfer, aber am Ende „hat er sich einfach abgeschalt­et“, sagt seine Tochter.

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