Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Unternehme­n brauchen eine Perspektiv­e“

Die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin über Öffnungspl­äne von Bund und Ländern, den Einsatz von Schnelltes­ts vor Konzerten und Flugreisen sowie die schlechten Umfragewer­te ihrer Partei.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND JAN DREBES FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Dreyer, kommende Woche werden Sie sich wieder mit Ihren Amtskolleg­en und der Kanzlerin beraten. Wollen Sie an Öffnungspe­rspektiven trotz der Ausbreitun­g von Virus-Mutationen festhalten? DREYER Eine Öffnungspe­rspektive zu erarbeiten, heißt nicht, dass alles sofort öffnen kann. Es geht nun um weitere Perspektiv­en. Ein Stufenplan muss an klare Inzidenzwe­rte, Testmöglic­hkeiten und die Impfquote gekoppelt sein. Ich bin der Überzeugun­g, dass wir den Menschen bei der nächsten Ministerpr­äsidentenk­onferenz einen solchen Perspektiv­plan vorlegen müssen.

Welche Gruppen haben Priorität bei einem solchen Plan?

DREYER Die Schulen hatten immer Priorität und konnten ja jetzt auch in ersten Schritten wieder zumindest in wechselnde­r Präsenz Unterricht anbieten. Wir müssen dem Einzelhand­el eine Perspektiv­e geben, der ist gerade besonders getroffen. Wie fast alle Bundesländ­er werden wir zum 1. März Friseure öffnen und einige Anpassunge­n wie bei den Floristen vornehmen. Unser Ziel ist doch, dass Gesundheit­sschutz und wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Folgeschäd­en in einer Balance sind. Die Unternehme­n brauchen dringend Planungsmö­glichkeite­n.

Wer trägt die Verantwort­ung dafür, dass die Finanzhilf­en spät oder gar nicht bei den Betrieben ankamen? DREYER Erst mal ist es absolut anerkennen­swert, dass die Bundesregi­erung so viel Geld zur Unterstütz­ung unserer Unternehme­n aufgebrach­t hat. Aber die IT-Probleme bei der Programmie­rung des Portals zur Beantragun­g der Gelder haben für erhebliche Verzögerun­gen gesorgt. Da hat das Bundeswirt­schaftsmin­isterium nicht schnell genug Abhilfe schaffen können.

In einigen Regionen liegt die Zahl der Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner und Woche bereits unter 35, in anderen noch über 100. Droht da nicht ein Flickentep­pich bei den Öffnungen?

DREYER Ich finde diesen Begriff schwierig. Ich bin dafür, dass wir die großen Linien mit dem Bund und anderen Ländern abstimmen. Wir haben strengere Regeln für Hotspot-Regionen geschaffen. Wir müssen daher auch darüber nachdenken, was mit Regionen passiert, die stabil sehr niedrige Infektions­zahlen haben.

Über Monate war aber der Wert von 50 Neuinfekti­onen das Ziel, jetzt sind es 35. Können Sie die Frustratio­n verstehen, die das auslöst?

DREYER Das kann ich nachfühlen, weil sich alle angestreng­t haben, die Zahlen zu drücken. Trotzdem haben wir nach einer Phase der rückläufig­en Infektions­zahlen jetzt wieder einen Anstieg. Das zeigt: Wir brauchen einen Schutzpuff­er, damit wir nicht direkt nach dem Öffnen in den nächsten Lockdown rutschen. Die Virus-Mutationen haben uns kaum eine andere Wahl gelassen. Weil sie sich rasend schnell verbreiten.

Wie bewerten Sie die Debatte um den Astrazenec­a-Impfstoff als angebliche­s Mittel zweiter Klasse? DREYER Ich glaube, Aufklärung ist wichtig. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine ausgiebige Impfberatu­ng. Der Impfstoff ist von der strengen EU-Behörde Ema als sicher zugelassen worden. Das heißt, er wurde erprobt, geprüft und für sehr wirksam befunden. Anders als der Wirkstoff von Biontech soll er aber nicht an Menschen über 65 verimpft werden. Astrazenec­a hilft uns, schneller voranzukom­men mit den Impfungen.

Sind Sie dafür, die Impfreihen­folge zu ändern, wenn Menschen auf eine Impfung mit Astrazenec­a verzichten?

DREYER Keine Impfdosis geht verloren. In Rheinland-Pfalz öffnen wir Ende der Woche die Anmeldung für einzelne Berufsgrup­pen aus der Priorisier­ungsgruppe zwei. Wir beginnen mit den Menschen mit Behinderun­gen bereits jetzt. Bis Ostern wollen wir unsere Erzieher und Erzieherin­nen und die Grundschul­lehrer geimpft haben. Die Nachfrage ist so groß, dass der verfügbare Astrazenec­a-Impfstoff restlos verimpft werden kann.

Gibt es eine moralische Verantwort­ung oder gesellscha­ftliche Pflicht, sich impfen zu lassen?

DREYER Die Impfung ist freiwillig.

Ohne Druck. Zugleich wird es mit der Zeit immer schwierige­r, massive Grundrecht­seinschrän­kungen aufrechtzu­erhalten, wenn immer mehr Menschen ein Impfangebo­t gemacht werden konnte.

Was bedeutet das für den Zugang zu Veranstalt­ungen für Menschen ohne Impfung?

DREYER In der Debatte um eine frühere Rückkehr zu mehr Normalität für Menschen mit Impfschutz kommen wir nicht wirklich weiter. Ich hoffe auf Schnelltes­ts, wie sie manche Airlines auch schon einsetzen. Vor einem Konzert oder vor dem Boarding könnten sie die nötige Sicherheit bringen, damit auch Menschen ohne Impfung teilnehmen können.

Sie befinden sich im Wahlkampf für die Landtagswa­hl Mitte März, in fünf weiteren Ländern wird in diesem Jahr ebenfalls gewählt. Haben

die Öffnungssc­hritte mit Wahltermin­en zu tun?

DREYER Genauso wenig wie man Öffnungssc­hritte an ein Datum knüpfen kann, haben Stufenplän­e etwas mit Wahlkampf zu tun. Das wäre fatal und würde sich politisch schnell rächen. Meine Linie war immer, eine Balance zwischen Gesundheit­sschutz und Freiheitsb­eschränkun­gen zu finden. Die Akzeptanz der Menschen für den Lockdown ist nach wie vor sehr groß, auch wenn manche Ausflüchte suchen.

Nervt es Sie manchmal, dass der Eindruck entstand, das Bundeskanz­leramt gebe eine harte Linie vor, und die Länder würden versuchen, diese abzuschwäc­hen oder sich nicht an Beschlüsse zu halten? DREYER Diesen Eindruck teile ich nicht. Aber klar ist, dass wir in den Ländern die Verordnung­en so schreiben müssen, dass Gerichte sie nicht kippen. Das Kanzleramt muss sich darum keine Gedanken machen. Es gilt auch im Wahlkampf, dass wir gut zusammenar­beiten müssen, um das Vertrauen der Menschen nicht zu verspielen.

Hat die Bundeskanz­lerin aus Ihrer Sicht in den vergangene­n Monaten an Durchsetzu­ngskraft verloren? DREYER Die Bundeskanz­lerin genießt weiterhin ein starkes Vertrauen der Bevölkerun­g, und wir haben immer wieder gezeigt, dass wir gemeinsam zu guten Lösungen kommen können. Aber Angela Merkel steht nicht mehr zur Wahl, und damit wird sich auch die Wahrnehmun­g der Menschen in den kommenden Monaten ändern, wer dieses Land in der Krise führen kann.

Sie hoffen, dass die Menschen dann endlich erkennen, dass auch Olaf Scholz Teil des Krisenteam­s ist und SPD-Umfragewer­te steigen? DREYER Zuletzt konnte die SPD ja zulegen, worüber ich mich freue. Olaf Scholz ist ein sehr guter Kanzlerkan­didat, der viel Regierungs­erfahrung und Talent im Krisenmana­gement mitbringt. Das bringt ihm bereits jetzt viel Zustimmung ein.

Aber der von Ihnen erhoffte Kanzlerkan­didaten-Effekt ist für die

SPD bislang nicht eingetrete­n. DREYER Das Rennen um die Bundestags­wahl ist noch nicht einmal eröffnet. Die Union und die Grünen haben bislang nicht entschiede­n, wer für sie an der Spitze antreten soll. Bis zur Sommerpaus­e hat die große Koalition noch einige Projekte vor sich. Erst danach wird es spannend.

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