Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Unternehmen brauchen eine Perspektive“
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin über Öffnungspläne von Bund und Ländern, den Einsatz von Schnelltests vor Konzerten und Flugreisen sowie die schlechten Umfragewerte ihrer Partei.
Frau Dreyer, kommende Woche werden Sie sich wieder mit Ihren Amtskollegen und der Kanzlerin beraten. Wollen Sie an Öffnungsperspektiven trotz der Ausbreitung von Virus-Mutationen festhalten? DREYER Eine Öffnungsperspektive zu erarbeiten, heißt nicht, dass alles sofort öffnen kann. Es geht nun um weitere Perspektiven. Ein Stufenplan muss an klare Inzidenzwerte, Testmöglichkeiten und die Impfquote gekoppelt sein. Ich bin der Überzeugung, dass wir den Menschen bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz einen solchen Perspektivplan vorlegen müssen.
Welche Gruppen haben Priorität bei einem solchen Plan?
DREYER Die Schulen hatten immer Priorität und konnten ja jetzt auch in ersten Schritten wieder zumindest in wechselnder Präsenz Unterricht anbieten. Wir müssen dem Einzelhandel eine Perspektive geben, der ist gerade besonders getroffen. Wie fast alle Bundesländer werden wir zum 1. März Friseure öffnen und einige Anpassungen wie bei den Floristen vornehmen. Unser Ziel ist doch, dass Gesundheitsschutz und wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgeschäden in einer Balance sind. Die Unternehmen brauchen dringend Planungsmöglichkeiten.
Wer trägt die Verantwortung dafür, dass die Finanzhilfen spät oder gar nicht bei den Betrieben ankamen? DREYER Erst mal ist es absolut anerkennenswert, dass die Bundesregierung so viel Geld zur Unterstützung unserer Unternehmen aufgebracht hat. Aber die IT-Probleme bei der Programmierung des Portals zur Beantragung der Gelder haben für erhebliche Verzögerungen gesorgt. Da hat das Bundeswirtschaftsministerium nicht schnell genug Abhilfe schaffen können.
In einigen Regionen liegt die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche bereits unter 35, in anderen noch über 100. Droht da nicht ein Flickenteppich bei den Öffnungen?
DREYER Ich finde diesen Begriff schwierig. Ich bin dafür, dass wir die großen Linien mit dem Bund und anderen Ländern abstimmen. Wir haben strengere Regeln für Hotspot-Regionen geschaffen. Wir müssen daher auch darüber nachdenken, was mit Regionen passiert, die stabil sehr niedrige Infektionszahlen haben.
Über Monate war aber der Wert von 50 Neuinfektionen das Ziel, jetzt sind es 35. Können Sie die Frustration verstehen, die das auslöst?
DREYER Das kann ich nachfühlen, weil sich alle angestrengt haben, die Zahlen zu drücken. Trotzdem haben wir nach einer Phase der rückläufigen Infektionszahlen jetzt wieder einen Anstieg. Das zeigt: Wir brauchen einen Schutzpuffer, damit wir nicht direkt nach dem Öffnen in den nächsten Lockdown rutschen. Die Virus-Mutationen haben uns kaum eine andere Wahl gelassen. Weil sie sich rasend schnell verbreiten.
Wie bewerten Sie die Debatte um den Astrazeneca-Impfstoff als angebliches Mittel zweiter Klasse? DREYER Ich glaube, Aufklärung ist wichtig. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine ausgiebige Impfberatung. Der Impfstoff ist von der strengen EU-Behörde Ema als sicher zugelassen worden. Das heißt, er wurde erprobt, geprüft und für sehr wirksam befunden. Anders als der Wirkstoff von Biontech soll er aber nicht an Menschen über 65 verimpft werden. Astrazeneca hilft uns, schneller voranzukommen mit den Impfungen.
Sind Sie dafür, die Impfreihenfolge zu ändern, wenn Menschen auf eine Impfung mit Astrazeneca verzichten?
DREYER Keine Impfdosis geht verloren. In Rheinland-Pfalz öffnen wir Ende der Woche die Anmeldung für einzelne Berufsgruppen aus der Priorisierungsgruppe zwei. Wir beginnen mit den Menschen mit Behinderungen bereits jetzt. Bis Ostern wollen wir unsere Erzieher und Erzieherinnen und die Grundschullehrer geimpft haben. Die Nachfrage ist so groß, dass der verfügbare Astrazeneca-Impfstoff restlos verimpft werden kann.
Gibt es eine moralische Verantwortung oder gesellschaftliche Pflicht, sich impfen zu lassen?
DREYER Die Impfung ist freiwillig.
Ohne Druck. Zugleich wird es mit der Zeit immer schwieriger, massive Grundrechtseinschränkungen aufrechtzuerhalten, wenn immer mehr Menschen ein Impfangebot gemacht werden konnte.
Was bedeutet das für den Zugang zu Veranstaltungen für Menschen ohne Impfung?
DREYER In der Debatte um eine frühere Rückkehr zu mehr Normalität für Menschen mit Impfschutz kommen wir nicht wirklich weiter. Ich hoffe auf Schnelltests, wie sie manche Airlines auch schon einsetzen. Vor einem Konzert oder vor dem Boarding könnten sie die nötige Sicherheit bringen, damit auch Menschen ohne Impfung teilnehmen können.
Sie befinden sich im Wahlkampf für die Landtagswahl Mitte März, in fünf weiteren Ländern wird in diesem Jahr ebenfalls gewählt. Haben
die Öffnungsschritte mit Wahlterminen zu tun?
DREYER Genauso wenig wie man Öffnungsschritte an ein Datum knüpfen kann, haben Stufenpläne etwas mit Wahlkampf zu tun. Das wäre fatal und würde sich politisch schnell rächen. Meine Linie war immer, eine Balance zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsbeschränkungen zu finden. Die Akzeptanz der Menschen für den Lockdown ist nach wie vor sehr groß, auch wenn manche Ausflüchte suchen.
Nervt es Sie manchmal, dass der Eindruck entstand, das Bundeskanzleramt gebe eine harte Linie vor, und die Länder würden versuchen, diese abzuschwächen oder sich nicht an Beschlüsse zu halten? DREYER Diesen Eindruck teile ich nicht. Aber klar ist, dass wir in den Ländern die Verordnungen so schreiben müssen, dass Gerichte sie nicht kippen. Das Kanzleramt muss sich darum keine Gedanken machen. Es gilt auch im Wahlkampf, dass wir gut zusammenarbeiten müssen, um das Vertrauen der Menschen nicht zu verspielen.
Hat die Bundeskanzlerin aus Ihrer Sicht in den vergangenen Monaten an Durchsetzungskraft verloren? DREYER Die Bundeskanzlerin genießt weiterhin ein starkes Vertrauen der Bevölkerung, und wir haben immer wieder gezeigt, dass wir gemeinsam zu guten Lösungen kommen können. Aber Angela Merkel steht nicht mehr zur Wahl, und damit wird sich auch die Wahrnehmung der Menschen in den kommenden Monaten ändern, wer dieses Land in der Krise führen kann.
Sie hoffen, dass die Menschen dann endlich erkennen, dass auch Olaf Scholz Teil des Krisenteams ist und SPD-Umfragewerte steigen? DREYER Zuletzt konnte die SPD ja zulegen, worüber ich mich freue. Olaf Scholz ist ein sehr guter Kanzlerkandidat, der viel Regierungserfahrung und Talent im Krisenmanagement mitbringt. Das bringt ihm bereits jetzt viel Zustimmung ein.
Aber der von Ihnen erhoffte Kanzlerkandidaten-Effekt ist für die
SPD bislang nicht eingetreten. DREYER Das Rennen um die Bundestagswahl ist noch nicht einmal eröffnet. Die Union und die Grünen haben bislang nicht entschieden, wer für sie an der Spitze antreten soll. Bis zur Sommerpause hat die große Koalition noch einige Projekte vor sich. Erst danach wird es spannend.