Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Die einzige Chance ist offene Aufarbeitung“
Vorerst hält das Erzbistum Köln das Missbrauchsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl unter Verschluss – trotz Protests von Gläubigen und Amtsträgern. Einer der Juristen, die an dieser Studie mitgearbeitet haben, erklärt die Hintergründe.
Herr Wastl, hatten Sie in den zurückliegenden Wochen oder Monaten Gelegenheit, mit Kardinal Woelki in Kontakt zu treten?
WASTL Es wäre gut gewesen, mit uns und nicht ausschließlich über uns zu sprechen.
Ihre Kanzlei hat ein Gutachten auch für das Bistum Aachen erstellt und ohne Beanstandung mit der Namensnennung von Verantwortlichen veröffentlicht. Worin unterscheidet sich Köln von Aachen? WASTL Der Gutachtensauftrag war in Köln und Aachen identisch. Wir sollten systemische Defizite benennen, die aus unserer Sicht sexuellen Missbrauch begünstigt und dessen Vertuschung ermöglicht haben. Wir sollten persönliche Verantwortlichkeiten benennen und auf der Grundlage unserer Feststellungen zu den systemischen Defiziten sowie den Verantwortlichkeiten Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Da weder das Bistum Aachen noch das Erzbistum Köln im luftleeren Raum agierten, liegt es auf der Hand, dass die Ausführungen zu systemischen Defiziten sowie unsere Empfehlungen in beiden Gutachten weitestgehend deckungsgleich sein dürften.
Wie schwierig ist es bei einer unsicheren Quellenlage, überhaupt belastbare Ergebnisse zu bekommen? WASTL Es ist in der Tat so, dass sich häufig ein Verdacht massiv aufdrängt, man aber aufgrund der Defizite in der Aktenführung und Dokumentation des Geschehenen keine hinreichenden Nachweise zutage fördern kann. In solchen Fällen kann dem jeweiligen Verantwortungsträger dann auch öffentlich kein Vorwurf gemacht werden. Demgegenüber gibt es auch genügend Fälle, in denen nachweisbare Handlungen oder Unterlassungen festgestellt werden, auf deren Basis eine Verantwortungszuweisung erfolgen kann.
Was ist das genaue Ziel Ihres Gutachtens gewesen: Dokumentation oder eher eine wertende Einordnung? Im Gegengutachten von Matthias Jahn heißt es über Ihre Arbeit, dass sie sich manchmal wie eine Anklageschrift lesen würde.
WASTL Unser Auftrag war es, nicht nur eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle vorzunehmen. Wir sollten ausdrücklich auch prüfen und bewerten, ob und inwieweit das Verhalten etwaig zu benennender Bistumsverantwortlicher, insbesondere in moralischer Hinsicht, angemessen war. Der anzulegende Prüfungsmaßstab war dabei namentlich das kirchliche Selbstverständnis. Einen auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle beziehungsweise Dokumentation beschränkten Gutachtensauftrag hätten wir auch nie angenommen; dies schon allein deshalb, weil ein derartig beschränkter Prüfungsauftrag der Dimension des sexuellen Missbrauchs in der Kirche von vornherein nicht gerecht werden kann. Die von uns geforderten moralischen und am kirchlichen Selbstverständnis orientierten Bewertungen erfordern oftmals auch eine entsprechend deutliche Sprache.
In der öffentlichen Kritik, insbesondere an Bischöfen, dreht sich manches um ein sogenanntes pflichtwidriges Verhalten. Woran kann man das tatsächlich festmachen? WASTL Versteht man „pflichtwidrig“in einem engen Sinne, kann man dies wohl nur an Rechtsverstößen festmachen. Beurteilungsgrundlage sind dabei das Kirchenrecht sowie insbesondere das staatliche Strafrecht. Die Hürden für ein Eingreifen des staatlichen Strafrechts bei Vertuschungshandlungen und/oder den sogenannten Versetzungsfällen sind jedoch sehr hoch. Eine Strafbarkeit des Verhaltens eines Bistumsverantwortlichen wird nur in Ausnahmsfällen eindeutig bejaht werden können. Etwas anders sieht dies im Kirchenrecht aus. Hier kommt beispielsweise die Verletzung von Anzeigepflichten im Verhältnis zu Rom sowie das pflichtwidrige Unterlassen einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung in Betracht. Wie ich aber schon gesagt habe, muss „pflichtwidrig“in einem weiteren Sinne verstanden werden. Jeder Bistumsverantwortliche hatte selbstverständlich auch die Pflicht, sich bei der Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs am kirchlichen Selbstverständnis zu orientieren und elementare kirchliche Grundforderungen nicht zu missachten.
Seit der bundesweiten Missbrauchsstudie 2018 ist die Rede davon, dass Missbrauch beziehungsweise Missbrauchsbegünstigung systemische Ursachen hat. Gehört dazu eine falsch verstandene Priester-Solidarität?
WASTL Da unser Aachener Gutachten veröffentlicht wurde und frei zugänglich ist, darf ich zunächst auf unsere dortigen, umfangreicheren Ausführungen verweisen. Im Einklang mit anderen Missbrauchsstudien kommen auch wir zum Ergebnis, dass die besondere Verbindung zwischen Priestern zu einer gewissen Wagenburgmentalität geführt hat. Hinzu kommt, dass ein gewisses elitäres Priesterbild existiert, das die Priester nach unserem Verständnis letztlich in einer herausgehobenen Position zwischen den Laien und Gott sieht. Es stellt sich damit zumindest die nach unserer Ansicht intensiv zu diskutierende Frage, ob nicht auch durch dieses Priesterbild und die damit einhergehende Gefahr eines elitären Selbstverständnisses von Priestern die Wagenburgmentalität gefördert, aber auch sexueller Missbrauch selbst begünstigt wird.
Welche Folgen können lange Debatten um Missbrauchsgutachten in der öffentlichen Wahrnehmung haben? Und in welchem Licht erscheinen möglicherweise die Aufklärungsversuche der Kirche? WASTL Es ist mir wichtig, vorab darauf hinzuweisen, dass die Kirche meiner Einschätzung nach im Vergleich zu anderen Institutionen bereits sehr viel im Hinblick auf die Prävention geleistet hat. Teilweise ist auch ein ehrliches Bemühen um rückhaltlose Aufklärung und Aufarbeitung festzustellen. Ich will in diesem Zusammenhang nur die (Erz-)Bistümer Limburg, Münster, Essen, Aachen sowie München und Freising nennen. Aber wir haben auch festgestellt, dass es nach wie vor eine starke Strömung innerhalb der Kirche gibt, die bei der Aufarbeitung zumindest auf Zeit spielt. Dies ist elf Jahre nach Aufdeckung sexuellen Missbrauchs im Canisius-Kolleg nicht mehr vermittelbar. Welche Folgen langwierige und vor allem intransparente Debatten um Missbrauchsgutachten haben, zeigt der Umgang mit unserem Kölner Gutachten. Die einzige Chance der Kirche ist es, auf der Grundlage der nunmehr ja bereits vorliegenden Erkenntnisse eine umfassende, offene und ehrliche Aufarbeitung im Dialog mit den Betroffenen zu beginnen. Dieser Dialog wird, wie ich glaube, für beide Seiten schmerzlich und kann nur gelingen, wenn er transparent und auf Augenhöhe stattfindet und hierfür die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.