Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Der Hund ist ein Überraschungspaket“
Wer ein Tier anschafft, muss es erst kennenlernen. Der Lockdown erschwert die Erziehung, so die Tiertrainerin.
Wie haben sich bei Ihnen die Anfragen entwickelt in der Pandemie? SIMONE KLIPP Das ist rasant nach oben gegangen. Bei den Hundeschulen von Martin Rütter, zu denen ich gehöre, verzeichnen wir bundesweit einen Boom, was die Anfragen nach Hundetrainings angeht, so etwa 30 bis 50 Prozent mehr als im Vorjahr.
Sind demnach auch so viele Hunde mehr gekauft worden?
KLIPP Den Rückschluss kann man definitiv ziehen, ich würde sogar noch weitergehen. Denn nicht alle, die sich einen Hund angeschafft haben, landen in der Hundeschule.
Gibt es denn eine Rasse, die im Lockdown sehr beliebt ist?
KLIPP Nein. Die Leute sind ja froh, wenn Sie überhaupt einen Hund kriegen, so groß ist die Nachfrage. Das Training von Hunden in Schulen ist seit Monaten nur eingeschränkt oder gar nicht möglich.
Was heißt das für die Entwicklung von Welpen, wenn diese Erziehungsphase verpasst wird?
KLIPP Für die Welpen ist es unglaublich wichtig, dass sie in den ersten 16 Wochen andere Hunde kennenlernen. Sie müssen sich im Spiel erproben, sich austauschen. Diese Erfahrungen brauchen sie später. So werden die Tiere gewappnet für das spätere Leben.
Muss man also mit Spätfolgen bei vielen Tieren rechnen, oder lässt sich das noch korrigieren?
KLIPP Wenn Hunde nicht auch in späteren Jahren erziehbar wären, könnte ich meine Hundeschule schließen. Auch erwachsene Hunde können dazulernen. Aber für die Kontakterfahrungen mit anderen Tieren sind diese ersten Monate schon wichtig. Wenn das fehlt, können später in der Pubertät Probleme an der Leine auftreten oder mit anderen Menschen. Das zu korrigieren, kann viel Arbeit bedeuten.
Bei welchen Anzeichen beim Tier sollte man alarmiert sein, dass es in die falsche Richtung geht?
KLIPP Wenn das Tier für die Halter unberechenbar wird. Das kann sein, wenn der Hund oft knurrt, etwa bei Kindern oder Joggern, oder wenn er Besucher nicht mehr in die Wohnung lässt oder sogar anfängt zu schnappen und zu beißen.
Müssen wir bald mit Heerscharen von unerzogenen Hunden rechnen? KLIPP Für viele Menschen ist der Hund, den sie sich angeschafft haben, tatsächlich ein Überraschungspaket. Sie wissen nicht, welche Bedürfnisse das Tier hat und worauf es im Alltag ankommt, um dem Hund eine geregelte Struktur näherzubringen. Daraus resultieren viele Probleme.
Das heißt, wir haben es vermehrt mit überforderten Haltern zu tun? KLIPP Ja, definitiv. Aber auch die Nachfrage nach Beratung vor der Anschaffung eines Hundes ist gestiegen, um etwa 30 Prozent. Viele denken, dass sie jetzt in der Pandemie genug Zeit haben, sich ums Tier zu kümmern. Aber sie denken das nicht zu Ende: Was ist, wenn man wieder ins Büro muss? Wenn der Hund stundenlang alleine bleiben muss und er das nicht gelernt hat?
Es wird also häufig von falschen Annahmen ausgegangen, was die Haltung betrifft.
KLIPP Viele Menschen möchten ihrem Tier größtmögliche Freiheiten zugestehen. Da muss man dann deutlich machen, dass Freiheit für einen Hund nicht unbedingt gut ist. Ängstliche Tiere etwa brauchen Führung, sie von der Leine zu lassen, ist für sie schlimmster Stress.
Welche Konsequenzen können langfristig aus der Beziehung überforderter Halter – unerzogener Hund resultieren?
KLIPP Schlimmstenfalls reagiert der Hund mit Aggressionsverhalten. Das kann auch zu Hause passieren. Wenn der Hund meint, die Verantwortung tragen zu müssen, nimmt er Privilegien für sich in Anspruch, etwa die Ressourcenverwaltung. Er gibt zum Beispiel das Spielzeug nicht mehr her, knurrt und beißt möglicherweise auch mal zu.
Was kann man tun, um nicht die Kontrolle zu verlieren?
KLIPP Wenn es zu Übergriffen gekommen ist, muss man sehr viel Arbeit investieren. Klären, wie es dazu kam und Vertrauen wieder aufbauen. So was lässt sich aber in den meisten Fällen richten. Da muss man etwa auf die Aufgabenverteilung in der Familie schauen und den Hund in seinen Privilegien beschneiden. Es bedarf aber auch der Bereitschaft der Menschen, sich zu verändern. Denn das Verhalten des Hundes ändert sich nur, wenn sich das menschliche Verhalten ändert.
Stehen sich die Halter das eigene Versagen denn oft ein?
KLIPP Es macht den guten Hundetrainer
aus, dem Halter das klar zu machen. Wir sind ja keine Tierdompteure. Wir arbeiten mit den Menschen. Deshalb funktioniert Online-Training ganz gut, weil wir im Prinzip 90 Prozent der Zeit dem Halter widmen. Ein wichtiger Baustein ist, dass man den Hund erklärt, als Kommunikator und Mediator zwischen Mensch und Hund auftritt. Hündisches Verhalten wird eben oft fehlinterpretiert.
Wenn man einen Hund haben will: Wie lassen sich die gröbsten Fehler im Vorfeld vermeiden?
KLIPP Elementar ist der Gedanke an die Zukunft: Was passiert mit dem Hund, wenn die Halter wieder arbeiten müssen? Kann der Hund mit, gibt es eine Alternativbetreuung? Ein weiterer Aspekt ist das Finanzielle: Kann ich mir den Hund leisten? Sowohl, was die laufenden Kosten angeht, aber auch die Versicherung oder den Tierarzt.
Auch die Rasse muss passen.
KLIPP Absolut. Da muss man sich schon überlegen, was man mit dem Hund unternehmen will. Oder ob er mit Kindern auskommen muss. Das sind Überlegungen, die angestellt werden müssen…
…aber vielleicht jetzt hintenüber fallen, weil es keine Auswahl gibt. KLIPP Ganz wichtig ist es sowieso, den Hund vorher kennenzulernen. Viele Tiere aus dem Ausland werden angepriesen mit charakterlichen Merkmalen, die nicht der Realität entsprechen. Da wird viel mit den Emotionen gespielt. Ich rate zur Vorsicht, wenn man sich einen Hund anschafft, den man nur auf dem Bild gesehen hat. Ein Hund ist eine Entscheidung fürs Leben, für viele Jahre, auch für das Leben des Hundes. Da ist es nur fair, dass man sich, bevor man die Entscheidung trifft, gemeinsam das Leben zu bestreiten, einmal kennengelernt hat.
Befürchten Sie, dass nach Corona viele Hunde im Tierheim landen? KLIPP Das ist immer zu befürchten, wenn Hunde unüberlegt angeschafft werden. Ich kann nur hoffen, dass es auch nach der Pandemie genug Familien geben wird, die diese Tiere übernehmen. Ich will das aber gar nicht zu Ende denken.