Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Lohntütenball zur Musik von Hans Albers
Das Lokal „Zur Nachtigall“in Neerpont war ein beliebter Treffpunkt für die Menschen aus der Nachbarschaft. Arbeiter verwandelten dort gerne ihr Geld in Flüssiges.
NEERPONT Ungefähr in Höhe der Hortensien-Gärtnerei Pellens, entlang der Bundesstraße 9 in Richtung Pont, befinden sich zwischen Gehölz und Gestrüpp mit einer kleinen Mauer die letzten Überreste der ehemaligen Gaststätte „Zur Nachtigall“. Früher war das ein beliebter Ort, überwiegend für die Nachbarschaft aus dem Umland von Pont, Neerpont und Geldern. Für die Gelderner Sänger des Chores 1847 war die „Nachtigall“eine kurze Raststätte vor dem Ziel, wenn sie im Haus Golten ihre alljährlichen musikalischen Ständchen darbrachten. Auch Werner Jonkmans erinnert sich an die Gaststätte in der Nähe des Elternhauses. Jonkmans ist in der „weißen Siedlung“aufgewachsen, jener Häusergruppe, die nach damaliger Bauvorschrift weiß gestrichen werden musste, wie er beschreibt.
Der 91-jährige Ponter erzählt aus seiner Jugend: „Die Wirtin war bei allen bekannt als ‚Hubberde Stina‘, kam, soviel ich weiß, aus Nieukerk. Sie bewohnte das Haus mit einer kleinen Landwirtschaft dran. Eine Kuh, zwei Ziegen, Schweine und Hühner, wie das damals üblich war. Als Gehilfe schaute Franz Lax nach dem Rechten. Er durfte allerdings nicht in die Gastwirtschaft. Das war das Reich von Hubberde Stina allein, die eine Tageswirtschaft führte. Aber sie stand meist am Herd.“
Kehrte jemand bei ihr ein, so beschreibt Jonkmans, forderte die Wirtin den Gast auf: „Komm ma‘ de Keuk rin“. Es gab anfangs nur Korn, und die Flasche stand ständig auf der Fensterbank. Nie voll, sondern immer nur als angebrochene Flasche, das „Pinneken“zu zehn Pfennig. Die „Nachtigall“war in den 1950/60er Jahren eine Anlaufstelle für die Jugend der Umgebung.
Nach dem Tod der Wirtsfrau übernahm Franz Lax die Gastronomie.
Meist am Wochenende gesellten sich die Arbeiter der Stahlhallenbaufirma Opheys hinzu. Jonkmans: „Wir nannten das den Lohntütenball. Die Arbeiter von Opheys hatten ihren Wochenlohn ausgezahlt bekommen und zogen zuerst zu Cox-Mölders, dann zu Lemper, also die Plattlus, manchmal zu Bergers. Zuletzt kehrten sie ein in die Nachtigall. Aber auch die Ehefrauen kannten diesen Weg. Sie kamen hinzu, bevor das Bare aus der Lohntüte sich komplett für das Zahlen alkoholischer Getränke aufgelöst und der Ehegatte gar zu tief ins Glas geschaut hatte. Oder auch nicht. Manchmal waren sie zu spät.“
Es gab an der Wand einen kleinen Automaten, der beim Münzeinwurf und einer Drehung eine Handvoll kandierter Erdnüsse herausgab. Eine Musikbox war unter der Ägide von Franz Lax die moderne Errungenschaft. „Damit haben wir ganze Tanzabende gestaltet. Jeder steckte reihum eine Münze in den Automaten. Ich drückte gerne ,Die weiße Taube’ von Hans Albers“, schwärmt Jonkmans noch heute. Aus seinem Privatalbum stammt auch noch die alte Aufnahme mit der Gaststätte, weil dort der ganze Stolz des Vaters fotografiert wurde – ein Auto. Die Besonderheit: Sein Vater besaß keinen Führerschein, durfte das Gefährt gar nicht lenken.
„Man muss sich vorstellen, dass früher die Distanz zwischen Pont, Neerpont und Geldern noch größer erschien. Weniger Bebauung. Schließlich war man nicht mobil wie heute“, schildert Alice Schopmann von der Siedlung am Goltenhof. „Im Winter, bei Eis und Schnee, hat der Milchmann Hahn aus Pont beim Franz in der Nachtigall immer die Milch für mich abgegeben.“Auch Ulli Pachur hat Kindheitserinnerungen an die Gaststätte: „Ich bin mit meinem Großvater immer dahin. Der hatte nämlich 13 Mal im Jahr Geburtstag. An jedem 1. des Monats, wenn er seine Rente abholte, hat er dort einen Schnaps getrunken, und eben an seinem richtigen Geburtstag.“Die Mutter von Günter Evers aus Pont, Marga Evers, half Franz Lax als Kellnerin bei größeren Gesellschaften. Günter Evers: „Das muss so etwa 1952/53 gewesen sein. Wenn ich meine Mutter abholte, bekam ich ab und an sogar eine Sinalco als Belohnung. Das war schon was. Eben eine ganz andere Zeit als heute.“
Nach dem Tod von Franz Lax wurde die Gastwirtschaft noch kurze Zeit weitergeführt. Das Erbe ging an eine Nieukerker Familie, das Gebäude in Neerpont verfiel und wurde später abgerissen.