Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Mit einem Stich zu mehr Freiheit
Die Lebenshilfe versorgte die Bewohner von zwölf Häusern am Mittwoch in Materborn mit der schützenden Dosis. Die Impfstraßen funktionierten ohne Verzögerung. Doch für Menschen mit Einschränkung ist das Verstehen nicht leicht.
KLEVE Nachdem Claudia Elsmann ihre Astrazeneca-Impfung bekommen hat, strahlt sie übers ganze Gesicht. Von der 50-Jährigen ist eine Last abgefallen. „Das letzte Jahr war schwierig. Die Freizeit war viel langweiliger, außerdem konnten wir lange nicht in der Werkstatt arbeiten. Hoffentlich können wir bald wieder mehr machen, wenn wir alle geimpft sind“, sagt Elsmann. Ein wenig müde wirkt sie, dafür aber umso erleichterter. Claudia Elsmann ist eine von knapp 200 Menschen mit geistiger oder körperlicher Einschränkung, die am Mittwoch im Wohnpark der Lebenshilfe an der Dorfstraße in Materborn geimpft wurden. Die Impflinge stammten aus zwölf Häusern des Selbsthilfeverbands.
Für die Organisation der Impfungen zeichnete Ute Vehreschild verantwortlich. „Dieser Impftag ist eine logistische Meisterleistung, ein organisatorischer Kraftakt“, sagt sie. Schon die Anfahrt der Bewohner sei aufwendig gewesen. Immerhin führt die Lebenshilfe außerhalb der Kreisstadt auch Einrichtungen in Uedem, Nierswalde oder Kessel. Mit Bussen wurden die Menschen im Alter von 25 bis 86 Jahren in Kleingruppen gen Kleve gefahren. Tags zuvor waren sie getestet worden, glücklicherweise war niemand positiv. Für die Impflinge, viele davon im Rollstuhl unterwegs, hatten Ute Vehreschild und Kollegen zwei Impfstraßen eingerichtet, binnen weniger Minuten wurden sie durchgeschleust. Die Macher haben Einrichtungsverkehr vorgeschrieben, so dass die Abstände gewahrt werden. Das Ziel: lange Wartezeiten unbedingt vermeiden. Zudem hatten die Bewohner jederzeit einen Ansprechpartner an ihrer Seite, so dass es nicht zu Unsicherheiten kommen konnte.
„Besser hätte es nicht laufen können: Alles funktionierte reibungslos“, sagt Vehreschild. Von 12.30 bis 17 Uhr sollten alle Bewohner geimpft sein, der Zeitplan geriet nie ins Wanken. Im Wohnpark herrschte unübersichtliches Treiben, die Stimmung war beinahe euphorisch. Als
Impfarzt stand Larsen Seydel parat. „Ich bin wirklich begeistert davon, wie das Impfen hier über die Bühne geht. Die organisatorischen Voraussetzungen sind perfekt, die Menschen arbeiten gut mit“, sagt er. Zu starken allergischen Reaktionen auf den Impfstoff sei es am Dienstag nicht gekommen. „Solche Fälle gab es aber auch im Impfzentrum noch nicht. Das zeigt: Der Impfstoff ist gut“, sagt Larsen Seydel. Das Personal der Einrichtung wurde übrigens noch nicht geimpft, es muss zum Impfzentrum in Kalkar.
Doch trotz aller Freude im Wohnpark: Die Impfung von Menschen mit Behinderung ist für die Beteiligten auch eine besondere Herausforderung. Auch den Bewohnern stand es frei, die Impfung aus persönlichen Gründen abzulehnen. Einige durften selbst entscheiden, für andere fassten die gesetzlichen Betreuer einen Entschluss. Impfverweigerer aber gebe es nicht, so Ute Vehreschild. „Wir haben im Vorfeld viel mit den Menschen gesprochen, sie auf die Impfung lange vorbereitet. Wir haben die Einverständniserklärung sogar extra noch in verständlicherer Sprache herausgegeben, um möglichst viele Bewohner zu überzeugen“, sagt Stephan
Brockschmidt, Geschäftsführer der Lebenshilfe.
Dennoch sei einigen Menschen nicht genau klar, weshalb es nun zu einer Impfung kommen müsse, so Ute Vehreschild. „Nicht jeder wird verstehen, was hier genau passiert. Aber das vergangene Jahr war für viele Bewohner nicht leicht. Sie waren viel Zuhause, konnten nicht in die Werkstatt gehen. Dann kam noch das Thema Quarantäne, das nicht jeder nachvollziehen kann“, sagt Vehreschild. Hinzu kommen wöchentliche Testungen, im öffentlichen Raum die Maskenpflicht. Es sind unübersichtliche Zeiten – für alle, aber insbesondere für Menschen, die mit Einschränkungen leben. Nun aber könne man ihnen sehr deutlich aufzeigen, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt, so Vehreschild. Es winkt endlich wieder mehr Freiheit.
Wenige Dutzend Bewohner erhielten die Dosis von Biontech, das Gros jene von Astrazeneca. So auch Claudia Elsmann. „Ich gebe zu, dass ich vor einigen Wochen auch schon mal meine Zweifel hatte, ob ich mich wirklich impfen lasse. Im Fernsehen hat man so häufig etwas von schlimmen Nebenwirkungen gehört. Letztendlich aber glaube ich, dass alles nicht so schlimm ist. Ich hatte keine Angst, ich fühlte mich sicher“, sagt Claudia Elsmann. Das ist eine gute Voraussetzung für das, was noch kommt. In einigen Wochen wartet die zweite Spritze auf Claudia Elsmann und ihre Mitbewohnerinnen. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Normalität.