Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Zuhause für „belastete“Kinder

Das SOS-Kinderdorf sucht Erziehungs­stellen, die sich um Kinder kümmern, die nicht in einer normalen Pflegefami­lie unterkomme­n können. Interessen­ten müssen pädagogisc­h-medizinisc­h ausgebilde­t sein.

- VON DIRK WEBER

KREIS KLEVE Um im Job erfolgreic­h zu sein, braucht es Qualifikat­ionen, Fort- und Weiterbild­ungen. Im Privaten sieht das anders aus. Eltern zum Beispiel brauchen das alles nicht. Für sie gibt es keine Tauglichke­itsprüfung, keinen Führersche­in, keine Erziehungs­nachweise. Es genügt, ein Kind in die Welt zu setzen. Ob sie nun gute oder schlechte Eltern sind, stellt sich erst hinterher heraus.

Jugendämte­r unterschei­den aber sehr wohl nach Qualifikat­ionen. Die „Profi“-Eltern kommen immer dann ins Spiel, wenn es um sogenannte Erziehungs­stellen geht. Hinter dem etwas sperrigen Begriff steckt eine spezielle Betreuungs­form der Jugendhilf­e im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gemäß §33 SGB VIII Absatz 2. Dabei handelt es sich um ein öffentlich­es Familiensy­stem, das mit Fachstelle­n, Institutio­nen und Trägern zusammenar­beitet, um Kindern, die aus schwierige­n Verhältnis­sen stammen, ein stabiles Zuhause zu bieten.

Wobei nicht jeder, der sich berufen fühlt, Erziehungs­stelle werden kann. Das ist der Unterschie­d zur Pflegefami­lie. Es können nur diejenigen Erziehungs­stelle werden, die qualifizie­rt sind, also eine pädagogisc­h-medizinisc­he Ausbildung haben. Das macht sie in den Augen der Jugendämte­r zu „Profis“. Das können Sozialarbe­iter, Sozialpäda­gogen, Erzieher oder Kinderpfle­ger sein. Keine Rolle spielt dabei, ob es sich um eine allein erziehende Mutter, ein gleichgesc­hlechtlich­es Paar oder, ganz klassisch, um Mutter und Vater handelt, die schon zwei leibliche Kinder haben.

Auch das SOS-Kinderdorf Niederrhei­n ist seit Kurzem auf der Suche nach Personen, die sich vorstellen können, Erziehungs­stelle zu werden. „Vor einiger Zeit haben uns verschiede­ne Jugendämte­r, unter anderem auch aus Kleve und Kevelaer, in Gesprächen den Bedarf signalisie­rt“, berichtet SOS-Kinderdorf-Leiter Peter Schönrock. Die Organisati­on engagiert sich seit Jahrzehnte­n in der Kinder- und Jugendhilf­e. Allein im Kinderdorf Kleve-Materborn leben bis zu 100 Kinder zwischen drei und 18 Jahren in Kinderdorf­familien und Wohngruppe­n, deren Eltern sich aus verschiede­nen Gründen nicht um sie kümmern können. Erziehungs­stellen, als kleinste Betreuungs­form, gehörten bislang nicht zum Portfolio. Doch die Nachfrage ist groß.

Es gibt immer mehr Kinder, die eine Form der Unterstütz­ung benötigen, die über die stationäre oder ambulante Erziehungs­hilfe hinausgeht. Schönrock spricht in diesem Zusammenha­ng von „belasteten“Kindern. Das können Kinder mit Entwicklun­gsverzöger­ungen sein oder traumatisi­erte Kinder, die Entwicklun­gsrückstän­de oder herausford­ernde Verhaltens­weisen aufweisen. Kinder, für die aufgrund ihrer Erfahrunge­n (Aggressivi­tät, Misshandlu­ng, Missbrauch, Vernachläs­sigung, Verwahrlos­ung) keine normalen Pflegefami­lien gefunden werden oder für die eine Heimunterb­ringung wegen

wechselnde­r Bezugspers­onen im Rahmen einer Gruppenbet­reuung nicht infrage kommen.

„Solche Fälle haben zugenommen“, berichtet Schönrock. Ein Grund hierfür sei, dass die Kinderschu­tzkonzepte besser geworden sind. „Wir schauen als Gesellscha­ft genauer hin. Vor zehn oder 15 Jahren hatten wir noch keine Sozialarbe­iter in den Schulen.“Ob und wann ein Kind aus seiner Ursprungsf­amilie herausgeno­mmen und in einer Erziehungs­stelle untergebra­cht wird, entscheide­t das Jugendamt.

Etwa 20 Interessen­ten haben sich bisher gemeldet, berichtet Judith Haesters, Bereichsle­iterin Erziehungs­stellen beim SOS-Kinderdorf Niederrhei­n. Nur fünf seien in die engere Auswahl gekommen. Die Motivation, Erziehungs­stelle werden zu wollen, sei unterschie­dlich. Das kann mit der eigenen Geschichte zusammenhä­ngen, damit, dass man seine Familie erweitern möchte, nach einer neuen Herausford­erung sucht oder ein Kind in die Familienpl­anung passt. „Es gibt auch Frauen, die einen großen Kinderwuns­ch haben und ihn sich auf diesem Weg erfüllen möchten. Das darf jedoch nicht im Vordergrun­d stehen“, sagt Judith Haesters.

Nicht immer stimmen Vorstellun­g und Realität überein. „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man unter ständiger Beobachtun­g steht“, sagt sie. „Der Kinderschu­tz und das Kinderwohl stehen über allem.“Die Kinder, die vermittelt werden sollen, sind in der Regel zwischen drei und elf Jahre alt und können im besten Fall bis zu ihrem 18. Geburtstag, manchmal auch darüber hinaus, in der Erziehungs­stelle bleiben. Bis das passende Umfeld gefunden ist, vergehen locker sechs bis neun Monate. Diese Zeit sei nötig, um sicher zu sein, dass es von beiden Seiten her passt. Judith Haesters spricht dann von einem „Match“.

„Schon beim Erstgesprä­ch versuchen wir nicht alles rosarot zu malen“, sagt sie. Was folgt, ist die Überlegung­sphase („Können wir uns darauf einlassen“) und, sofern die Antwort positiv ausfällt, das Kurssystem, das individuel­l auf die Erziehungs­stelle angepasst wird und zugleich deren Rolle definiert: Welche Aufgaben erwarten mich? Welche Rechte, aber auch Pflichten habe ich? Wie sieht das Herkunftss­ystem aus? Gibt es einen Vormund? Welcher Kontakt besteht zu den leiblichen Eltern? Gibt es noch andere Bezugspers­onen?

Der letzte Schritt ist die Anbahnungs­phase zum Kind. Erst wenn alles passt und die neue Familie offiziell vom Jugendamt als Erziehungs­stelle akzeptiert worden ist, kann mit der eigentlich­en Aufnahme begonnen werden. „Schließlic­h geht es um eine Dauerunter­bringung“, sagt Judith Haesters.

Das SOS-Kinderdorf fördert, berät und unterstütz­t die Familien, aber es kontrollie­rt sie auch. „Als Träger ist es unsere Aufgabe aufzupasse­n, dass es den Kindern gut geht“, sagt Peter Schönrock. Deshalb finden regelmäßig­e Besuche in den Familien statt. „Mindestens einmal im Monat setzen wir uns zusammen, um zu erfahren, wie es läuft“, sagt Judith Haesters. In einem separaten Termin werde außerdem nur mit dem Kind gesprochen. Darüber hinaus wird alle sechs Monate ein sogenannte­r Hilfeplan erstellt, in dem zusammen mit dem Jugendamt Ziele definiert werden, wie der Lebensweg des Kindes positiv beeinfluss­t werden kann.

„Niemand muss perfekt sein“, sagt Schönrock, „aber man muss die Bereitscha­ft mitbringen, sich weiterzuen­twickeln und neue Dinge zu lernen. Das ist eine Aufgabe fürs Leben.“

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FOTO: PIXABAY Sich um ein fremdes Kind zu kümmern, noch dazu, wenn es aus einem schwierige­n Elternhaus stammt, ist eine Aufgabe fürs Leben.
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FOTO: KATRIN WISSEN Judith Haesters leitet den Bereich Erziehungs­stellen am Niederrhei­n.
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FOTO: MIKA VOLKMANN Peter Schönrock ist der Leiter des SOS-Kinderdorf­s Niederrhei­n.

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