Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Der schnellste Gocher aller Zeiten
Hubert Houben gehörte in den goldenen 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den besten Sprintern der Erde.
GOCH Da steht er nun, ein bisschen verlegen schaut er in die Kamera und in den Pulk von Journalisten. Die Hände liegen an einer unsichtbaren Hosennaht, die es im Sportdress nicht gibt. Die Brust unter dem weißen Hemd mit dem großen schwarzen deutschen Adler ist stolzgeschwellt. So posiert ein Leichtathletikstar. Denn das ist der Gocher Hubert Houben in den 1920er Jahren. Als er 1924 den Weltrekord über die 100 Yards auf 9,5 Sekunden verbessert, gilt er als schnellster Mann der Welt. Ein bisschen Usain Bolt vom Niederrhein.
Buchstäblich nur ein bisschen. Während der Mann aus Jamaika bei einer Körperlänge von 1,95 Meter ordentliche 95 Kilogramm auf die Laufbahn bringt, ist Houben ein Leichtgewicht. 1,69 Meter misst er vom Scheitel bis zur Sohle, 69 Kilogramm sind sein Kampfgewicht. Und natürlich ist Houben kein Showstar in einem weltumspannenden Geschäft, das seine Hauptdarsteller zu Millionären macht. Seine Zeit kennt keine großen Gesten, und das Wort Vermarktung kommt überhaupt nicht vor. Als der schnellste Gocher Karriere auf den Aschenbahnen macht, arbeitet er bei einer Bank in Krefeld. Die Leichtathletik ist sein Hobby.
Seine Leistungen sind dennoch gewaltig. Er läuft 1922 Weltbestzeit über die 100 Meter in Leipzig, beim Berliner Abendsportfest zwei Jahre darauf ist er schneller als der amtierende Weltrekordler Charles Paddock (USA). Seine beste Zeit läuft er, inzwischen heimisch geworden in Krefeld, in seiner Geburtsstadt Goch. Bei 10,4 Sekunden stoppt ihn die Uhr über 100 Meter. Experten sind sicher, dass er unter den heutigen Bedingungen, mit der heutigen Ausrüstung, auf Kunststoffbahnen und mit elektronischer Zeitmessung unter zehn Sekunden gelaufen wäre.
Schon die 10,4 von Goch wären Weltrekord gewesen. Wären, denn es waren nur zwei Zeitnehmer im Einsatz. Für eine offizielle Anerkennung wären drei Richter notwendig gewesen.
Für Houben ist das ebenso unglücklich wie die Tatsache, dass er in seiner besten Form nicht zu den Olympischen Spielen darf. 1924 in
Paris ist Deutschland noch ausgeschlossen – eine Folge des Ersten Weltkriegs (1914-1918).
Im reifen Alter von 30 Jahren startet aber auch Hubert Houben unter den fünf Ringen. Und wie. Mit der 4x100-Meter-Staffel (mit Georg Lammers, Helmut Körnig und Richard Corts) gewinnt er die Silbermedaille. Fast wäre es sogar Gold gewesen, aber der letzte Wechsel von Houben auf Körnig klappt nicht, Körnig ist zu früh losgelaufen, muss deshalb kurz langsamer werden, und dadurch können die US-Amerikaner das deutsche Quartett überholen. Eigentlich hätte Houben dem Schlussläufer einen ordentlichen Vorsprung mit auf den Weg gegeben.
Auf der Tafel der großen deutschen Leichtathleten ist er allerdings längst angekommen. Seine Bilanz ist beeindruckend. Neben dem größten Erfolg, der Olympia-Medaille, stehen neun deutsche Meisterschaften, 13 westdeutsche Meisterschaften und zwei Titel bei den offenen englischen Meisterschaften zu Buche. Houben darf also für sich in Anspruch nehmen, ein guter deutscher Botschafter im Ausland gewesen zu sein. Das ist wichtig in dieser Zeit, in der sein Land verlorenes Ansehen nach dem Ersten Weltkrieg wiedergewinnen muss. Dass es das wiedergewonnene Ansehen bald wieder verspielen sollte, weiß zu dieser Zeit noch niemand.
Natürlich auch Houben nicht, der sich auf der Laufbahn wohlfühlt und der im Scheinwerferlicht immer eher schüchtern wirkt. Ob er nach den Rennen vor den Fotografen steht oder nach einem gewonnenen Titel in England in Goch von würdigen Herren im dunklen Frack empfangen wird – die Bilder zeigen, dass die offiziellen Anlässe nicht sein Ding sind. Er lächelt ein bisschen verlegen, der Blumenstrauß, mit dem er beim Empfang begrüßt wird, scheint bereits in der Hand zu knittern. Houben sieht ganz so aus, als würde er am liebsten weglaufen. Damit hätte er selbst in Straßenschuhen sicher kein Problem. Die Legende will schließlich wissen, dass er für so manchen Rekordlauf gar nicht erst die Sportschuhe mit den kleinen Nägeln an der Sohle benötigte. Das aber ist, wie gesagt, eine Legende.
Sicher ist, dass Houben über ein Jahrzehnt der wahrscheinlich formstabilste Sprinter der Welt ist. Otto Verhoeven, ein Asperdener, der als größter Houben-Experte galt, hat unserer Redaktion vor fast zehn Jahren versichert: „Seine Beständigkeit war sagenhaft. Zwischen 1921 und 1929 lief er die 100 Meter 38 Mal in 10,6 Sekunden oder schneller.“
Das sichert ihm einen Ehrenplatz in der deutschen Leichtathletik, und es verschafft ihm ein andauerndes Andenken in seinen Vereinen. Preussen Krefeld hat seine Sportanlage „Hubert-Houben-Kampfbahn“genannt. Und in Goch heißt das Stadion an der Marienwasserstraße, in dem die Viktoria seit den frühen 1970er Jahren spielt, „Hubert-Houben-Stadion“. Otto Verhoeven ist daran nicht ganz unschuldig. Aus einem Auslandsaufenthalt in Mailand schreibt er einen Leserbrief. „Gocher Stadion – ein Denkmal für Hubert Houben?“, fragt er. Das hat sogar die Politik überzeugt. Und so ist ein Stück Gocher Sportgeschichte der 1920er Jahre noch in den 2020er Jahren erhalten. Es rennt nur niemand mehr so schnell wie Hubert Houben.