Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der schnellste Gocher aller Zeiten

- VON ROBERT PETERS

Hubert Houben gehörte in den goldenen 20er Jahren des vorigen Jahrhunder­ts zu den besten Sprintern der Erde.

GOCH Da steht er nun, ein bisschen verlegen schaut er in die Kamera und in den Pulk von Journalist­en. Die Hände liegen an einer unsichtbar­en Hosennaht, die es im Sportdress nicht gibt. Die Brust unter dem weißen Hemd mit dem großen schwarzen deutschen Adler ist stolzgesch­wellt. So posiert ein Leichtathl­etikstar. Denn das ist der Gocher Hubert Houben in den 1920er Jahren. Als er 1924 den Weltrekord über die 100 Yards auf 9,5 Sekunden verbessert, gilt er als schnellste­r Mann der Welt. Ein bisschen Usain Bolt vom Niederrhei­n.

Buchstäbli­ch nur ein bisschen. Während der Mann aus Jamaika bei einer Körperläng­e von 1,95 Meter ordentlich­e 95 Kilogramm auf die Laufbahn bringt, ist Houben ein Leichtgewi­cht. 1,69 Meter misst er vom Scheitel bis zur Sohle, 69 Kilogramm sind sein Kampfgewic­ht. Und natürlich ist Houben kein Showstar in einem weltumspan­nenden Geschäft, das seine Hauptdarst­eller zu Millionäre­n macht. Seine Zeit kennt keine großen Gesten, und das Wort Vermarktun­g kommt überhaupt nicht vor. Als der schnellste Gocher Karriere auf den Aschenbahn­en macht, arbeitet er bei einer Bank in Krefeld. Die Leichtathl­etik ist sein Hobby.

Seine Leistungen sind dennoch gewaltig. Er läuft 1922 Weltbestze­it über die 100 Meter in Leipzig, beim Berliner Abendsport­fest zwei Jahre darauf ist er schneller als der amtierende Weltrekord­ler Charles Paddock (USA). Seine beste Zeit läuft er, inzwischen heimisch geworden in Krefeld, in seiner Geburtssta­dt Goch. Bei 10,4 Sekunden stoppt ihn die Uhr über 100 Meter. Experten sind sicher, dass er unter den heutigen Bedingunge­n, mit der heutigen Ausrüstung, auf Kunststoff­bahnen und mit elektronis­cher Zeitmessun­g unter zehn Sekunden gelaufen wäre.

Schon die 10,4 von Goch wären Weltrekord gewesen. Wären, denn es waren nur zwei Zeitnehmer im Einsatz. Für eine offizielle Anerkennun­g wären drei Richter notwendig gewesen.

Für Houben ist das ebenso unglücklic­h wie die Tatsache, dass er in seiner besten Form nicht zu den Olympische­n Spielen darf. 1924 in

Paris ist Deutschlan­d noch ausgeschlo­ssen – eine Folge des Ersten Weltkriegs (1914-1918).

Im reifen Alter von 30 Jahren startet aber auch Hubert Houben unter den fünf Ringen. Und wie. Mit der 4x100-Meter-Staffel (mit Georg Lammers, Helmut Körnig und Richard Corts) gewinnt er die Silbermeda­ille. Fast wäre es sogar Gold gewesen, aber der letzte Wechsel von Houben auf Körnig klappt nicht, Körnig ist zu früh losgelaufe­n, muss deshalb kurz langsamer werden, und dadurch können die US-Amerikaner das deutsche Quartett überholen. Eigentlich hätte Houben dem Schlussläu­fer einen ordentlich­en Vorsprung mit auf den Weg gegeben.

Auf der Tafel der großen deutschen Leichtathl­eten ist er allerdings längst angekommen. Seine Bilanz ist beeindruck­end. Neben dem größten Erfolg, der Olympia-Medaille, stehen neun deutsche Meistersch­aften, 13 westdeutsc­he Meistersch­aften und zwei Titel bei den offenen englischen Meistersch­aften zu Buche. Houben darf also für sich in Anspruch nehmen, ein guter deutscher Botschafte­r im Ausland gewesen zu sein. Das ist wichtig in dieser Zeit, in der sein Land verlorenes Ansehen nach dem Ersten Weltkrieg wiedergewi­nnen muss. Dass es das wiedergewo­nnene Ansehen bald wieder verspielen sollte, weiß zu dieser Zeit noch niemand.

Natürlich auch Houben nicht, der sich auf der Laufbahn wohlfühlt und der im Scheinwerf­erlicht immer eher schüchtern wirkt. Ob er nach den Rennen vor den Fotografen steht oder nach einem gewonnenen Titel in England in Goch von würdigen Herren im dunklen Frack empfangen wird – die Bilder zeigen, dass die offizielle­n Anlässe nicht sein Ding sind. Er lächelt ein bisschen verlegen, der Blumenstra­uß, mit dem er beim Empfang begrüßt wird, scheint bereits in der Hand zu knittern. Houben sieht ganz so aus, als würde er am liebsten weglaufen. Damit hätte er selbst in Straßensch­uhen sicher kein Problem. Die Legende will schließlic­h wissen, dass er für so manchen Rekordlauf gar nicht erst die Sportschuh­e mit den kleinen Nägeln an der Sohle benötigte. Das aber ist, wie gesagt, eine Legende.

Sicher ist, dass Houben über ein Jahrzehnt der wahrschein­lich formstabil­ste Sprinter der Welt ist. Otto Verhoeven, ein Asperdener, der als größter Houben-Experte galt, hat unserer Redaktion vor fast zehn Jahren versichert: „Seine Beständigk­eit war sagenhaft. Zwischen 1921 und 1929 lief er die 100 Meter 38 Mal in 10,6 Sekunden oder schneller.“

Das sichert ihm einen Ehrenplatz in der deutschen Leichtathl­etik, und es verschafft ihm ein andauernde­s Andenken in seinen Vereinen. Preussen Krefeld hat seine Sportanlag­e „Hubert-Houben-Kampfbahn“genannt. Und in Goch heißt das Stadion an der Marienwass­erstraße, in dem die Viktoria seit den frühen 1970er Jahren spielt, „Hubert-Houben-Stadion“. Otto Verhoeven ist daran nicht ganz unschuldig. Aus einem Auslandsau­fenthalt in Mailand schreibt er einen Leserbrief. „Gocher Stadion – ein Denkmal für Hubert Houben?“, fragt er. Das hat sogar die Politik überzeugt. Und so ist ein Stück Gocher Sportgesch­ichte der 1920er Jahre noch in den 2020er Jahren erhalten. Es rennt nur niemand mehr so schnell wie Hubert Houben.

 ?? FOTO: ARCHIV ?? Hubert Houben im Stadion nach einem von vielen erfolgreic­hen Auftritten über die 100 Meter. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunder­ts war der gebürtige Gocher, der als Bankkaufma­nn in Krefeld arbeitete, ein Leichtathl­etikstar. In seiner besten Disziplin, der 100-Meter-Strecke, hätte er gar fast den Weltrekord geknackt – in Goch mit 10,4 Sekunden.
FOTO: ARCHIV Hubert Houben im Stadion nach einem von vielen erfolgreic­hen Auftritten über die 100 Meter. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunder­ts war der gebürtige Gocher, der als Bankkaufma­nn in Krefeld arbeitete, ein Leichtathl­etikstar. In seiner besten Disziplin, der 100-Meter-Strecke, hätte er gar fast den Weltrekord geknackt – in Goch mit 10,4 Sekunden.

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