Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein Dokument des moralischen Abgrunds
Das Missbrauchsgutachten des Starfrechtlers Björn Gercke umfasst über 800 Seiten. Erste Einblicke zeigen, wie die Kirche und ihre hohen Würdenträger ihre Pflicht verletzten und das Leid von Betroffenen missachteten.
KÖLN Diesen Tag habe er „herbeigesehnt“wie keinen anderen, und doch habe er keinen anderen zugleich so gefürchtet. Erst kurz vor seiner knappen Ansprache hat Kardinal Rainer Maria Woelki das Missbrauchsgutachten in Empfang genommen, um das seit einem Jahr gerungen, über dessen Entstehung diskutiert und erbittert gestritten wurde. Jetzt gibt es endlich „Ergebnisse“, soweit von Ergebnissen angesichts der insgesamt katastrophalen Personalaktenlage im Erzbistum Köln überhaupt die Rede sein kann.
Im Gutachten wird dem amtierenden Kölner Erzbischof keine Pflichtverletzung im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt vorgeworfen, dafür aber seinen verstorbenen Vorgängern Joseph Kardinal Höffner (1906–1987) und vor allem Joachim Kardinal Meisner (1933– 2017) sowie früheren Generalvikaren wie Dominikus Schwaderlapp und Stefan Heße, die mit der Bischofsweihe inzwischen höhere Ämter bekleiden: Schwaderlapp als Kölner Weihbischof und Heße als Erzbischof von Hamburg. Beide haben dem Heiligen Stuhl inzwischen ihren Rücktritt angeboten.
Mit der Suspendierung von Schwaderlapp und seinem Offizial Günter Assenmacher zieht Woelki schon kurz nach der Vorstellung des Gutachtens erste, ihm rechtlich mögliche Konsequenzen. Schwaderlapp trifft dies nicht unvorbereitet. Über seinen Amtsverzicht, den er dem Papst anbieten werde, habe er „im Vorfeld“schon mit Woelki gesprochen, teilt er mit. Alle Beschuldigten hatten im Vorfeld die Möglichkeit, Einsicht zu nehmen und sich zu den Vorwürfen den Gutachtern gegenüber zu erklären.
Köln war das erste Bistum in Deutschland, das ein Gutachten in Auftrag gab, mit dem Verantwortliche benannt werden sollten, die Missbrauch nicht verhindert, nicht verfolgt, gar vertuscht haben. Köln war auch das erste Bistum, das ein solches Gutachten – damals erarbeitet von der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl – wegen angeblicher methodischer Mängel nicht veröffentlichte und stattdessen ein zweites in Auftrag gab. Jetzt ist Köln das erste Bistum, in dem ein Bischof von seinem Amt entbunden wird.
Im Saal des Maternushauses kennt bis auf die Anwälte niemand das Gutachten im Detail. Und auf die Schnelle wird niemand der 40 anwesenden und über 130 zugeschalteten Journalisten genaue Einblicke gewinnen können. Die 800 Seiten werden später gelesen, hinzu kommt das erste Gutachten, das kommende Woche zur Einsicht aller ausliegen soll. Doch was jetzt in der Welt ist, reicht für ein erstes Bild umfassender Verfehlungen. Es sind Zahlen, die dieses Bild zeichnen: 202 Beschuldigte, die meisten von ihnen Kleriker, 314 Opfer, die meisten von ihnen Jungen, nicht älter als 14 Jahre. Und aufseiten der Bistumsleitung 75 ermittelte Pflichtverletzungen von acht Personalverantwortlichen. Wobei mit Pflichtverletzung nicht einfach die Missachtung kirchenrechtlicher Vorgaben gemeint ist. Ignoriert wurde manches: die Pflicht zur Aufklärung, zur Verhinderung, zur Anzeige – vor allem die Pflicht zur Fürsorge für die Opfer.
Dass die Verfehlungen auch durch das Gutachten nicht angemessen aufgearbeitet wurden, kritisieren Betroffene. „Es wird der Sache nicht gerecht, wir sind – wie so oft – allein gelassen“, sagte ein Betroffener dem WDR. Die katholische Reformbewegung Maria 2.0 sieht es ähnlich: „Die dürftigen Ergebnisse aufgrund der ebenso dürftigen Aktenlage zeigen, dass Aufklärung und Veränderung
der systemischen Ursachen so nicht gelingen kann“, so die Theologin Maria Mesrian. Eine unabhängige Kommission sei die einzige Möglichkeit, um an Gerechtigkeit im Sinne der Betroffenen zu denken.
Den kirchlichen Verantwortungsträgern ging es in vielen Fällen darum, den Täter als Priester zu schützen und die Anklagen der Opfer kleinzureden oder sogar anzuzweifeln. Die Protokolle im Gercke-Gutachten geben davon ein erschreckendes Zeugnis. Wenn etwa der langjährige Generalvikar Norbert Feldhoff erklärt, sich an den Beschuldigten zwar erinnern zu können, „aber nicht in Zusammenhang mit Missbrauchsfällen“.
Während Stefan Heße unter anderem mit dem Fall eines Betroffenen konfrontiert wurde, der als zehnjähriger Messdiener vom Kaplan in der Sakristei sexuell belästigt worden sei. Es kommt zum Gespräch mit Heße, der, so der aktenkundige Eindruck des Betroffenen, ihm nicht glaubt. Es gibt Widersprüche in den Darstellungen des Mannes, außerdem streitet der beschuldigte Seelsorger später alles ab. Das Leid wird nicht anerkannt, der Betroffene nicht entschädigt, zunächst nicht betreut. Ihm werden stattdessen die Kontaktdaten des Beschuldigten gegeben, um sich selbst mit ihm über das Vergangene zu verständigen.
Das sind nur zwei Einblicke in eine Untersuchung, die manch offene Frage dieses Tages nicht beantwortet. Etwa nach den systemischen Ursachen für den Missbrauch, nach dem moralischen Selbstverständnis der Kirche und natürlich auch danach, worin sich das neue Gutachten vom ersten in seiner Aussage und vor allem in seiner Beurteilung der Fälle unterscheidet.
Woelkis Verhalten im Fall des Düsseldorfer Priesters O., den er gut kannte und gegen den es Missbrauchsvorwürfe gab, die Woelki 2015 nicht nach Rom meldete, wertete Gercke als nicht pflichtverletzend. Der Beschuldigte sei zu dem Zeitpunkt schon schwer erkrankt und verhandlungsunfähig gewesen.