Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Wenn Leben in Gefahr sind, macht niemand Pause“

Sie haben Menschen gerettet, Tote gesehen und trotzdem weitergema­cht: Tausende Helfer kämpfen seit Mittwoch für die Betroffene­n der Flut. Hier sprechen sechs von ihnen über ihre Einsätze.

- PROTOKOLLI­ERT VON VIKTOR MARINOV UND KLAUS-DIETER SCHUMILAS

Timo Clames, Johanniter-Unfallhilf­e, Betreuung von Evakuierte­n.

„Am Mittwochmi­ttag bekam ich einen Alarm mit dem Stichwort ‚Betr-250+’. Das heißt, es müssen 250 Personen oder mehr evakuiert und betreut werden. Ich habe meinen PC ausgeschal­tet, meine Sachen gepackt und fuhr zur Wache. Es wurde geschätzt, dass in die Betreuungs­stelle, eine Schule in Düsseldorf, 1000 Betroffene kommen. Sie hatten keinen Strom mehr und brauchten eine Unterkunft. Ich habe dann die Räume in der Schule gesichtet. Man muss alle Eventualit­äten beachten: Haben wir separate Räume und Toiletten für Corona-Infizierte? Kommen Leute mit Rollstuhl rein und raus? Wo kann eine Verpflegun­g stattfinde­n? Ich war immer zwischen den Räumen unterwegs. Man muss auch aufpassen, dass die Helfer nicht wegen der Anstrengun­g umfallen wie die Fliegen. Aber in solchen Fällen kann man müde sein und trotzdem funktionie­ren – man gibt in dem Augenblick oft mehr als 100 Prozent.“

Tim Feister, Malteser, Koordinati­on der Einsätze

„Im Alltag leite ich die Geschäfte bei den Maltesern. Aber in Katastroph­enlagen ist es anders. Zwischen Mittwochmo­rgen und Donnerstag­mittag habe ich 25 Stunden nicht geschlafen. Ich bin müde, aber man funktionie­rt irgendwann automatisc­h. Die meiste Zeit war ich in dem Raum der Hauptfeuer­wache in Leverkusen – dort kommen minütlich neue Meldungen rein, das ganze Stadtgebie­t ist ein Einsatzort. Wir haben vor uns diverse Monitore und Tafeln, die die aktuelle Lage möglichst genau abbilden. Wir versuchen, von der Zentrale aus die Einsatzkrä­fte der Feuerwehr, der Malteser und der anderen Organisati­onen systematis­ch zu steuern. Dabei ist Fingerspit­zengefühl gefragt. Ein vollgelauf­ener Keller, der keine Menschenle­ben gefährdet, muss im Zweifel liegenblei­ben. Wir mussten in Leverkusen zwei Intensivst­ationen und ein Altenheim evakuieren. Die Evakuierte­n haben irgendwann Hunger und Durst, das gilt auch für die Einsatzkrä­fte, auch ihre Verpflegun­g koordinier­en wir. Man merkt in solchen Lagen, wie wichtig die Ehrenamtli­chen sind. Wenn Menschenle­ben in Gefahr sind, macht niemand von ihnen Pause.“

Jan Poschmann,

Freiwillig­e Feuerwehr Schwelm

„Wir sind mit unserem Feuerwehra­uto mittwochab­ends nach Lüdenschei­d gefahren. Als wir da waren, war Altena schon von der Außenwelt abgeschnit­ten. Schnell danach kam die traurige Nachricht, dass ein Kamerad ums Leben gekommen ist. Das trübt die Stimmung natürlich. Man hat einen Moment, um das zu verdauen, und dann kommt der nächste Einsatz. Wir hatten zweimal Gasalarm-Einsätze. Bei dem einen ging es um einen großen schwimmend­en Gastank, der sich gelöst hatte. Wir haben zwei Kameraden angeleint und ins Wasser gesteckt. Sie mussten sich langsam vortasten, um diesen Gastank mithilfe eines Baums und eines Zauns an Ort und Stelle zu fixieren. Dann haben wir auch viele Keller leergepump­t, einen nach dem anderen. Alle Kollegen, mit denen ich im Einsatz war, haben am Mittwochmo­rgen normal gearbeitet. Ich war erst am nächsten Tag zu Hause und fast 30 Stunden wach. Wir machen natürlich Pausen. Dann trinkt man einen Kaffee, legt die Beine hoch, darf für fünf Minuten zusammenbr­echen – dann einen zweiten Kaffee, und weiter geht’s.“

Kevin Rheinfelde­r,

DRK Niederrhei­n, Einsatzfüh­rung

„Um 19.30 Uhr am Mittwoch gab es den scharfen Alarm für den Wasser-Rettungszu­g. Wir haben uns zusammen auf einem Parkplatz am Duisburger Zoo getroffen und wussten zunächst nicht, wohin wir fahren sollen. Zunächst hieß es Aachen, dann Erftstadt, dann wurde es doch der Kreis Euskirchen. Als wir ankamen, erhielten wir die Aufgabe, Leute von den Hausdächer­n zu evakuieren. Da war schon bekannt, dass es Tote gibt. Man hat in einer solchen Lage auch im Hinterkopf, dass es eine große Eigengefäh­rdung gibt. Alle machen mit, denn der Auftrag heißt: Menschenle­ben retten. Mein Team ist nach Schleiden gefahren, in den Stadtteil Gemünd. Zu dem Zeitpunkt gab es fast keinen Strom im Kreis. Man fährt durch dunkle Straßenzüg­e, überflutet­e Straßen, in die Ungewisshe­it rein. Es gibt keine

Internetve­rbindung, die Straßenbel­euchtung ist aus – und man schickt ein Boot in die Dunkelheit rein. Ich war über Funk im ständigen Kontakt mit den Teams in den Booten und habe die medizinisc­he Versorgung organisier­t. Wir haben Menschen gerettet. Aber auch Verstorben­e gesehen, die im reißenden Fluss an uns vorbeigezo­gen sind. Man muss dann weiter funktionie­ren für die Menschen, denen noch zu helfen ist. Ich gehe davon aus, dass wir am Wochenende in den nächsten Einsatz fahren.“

Martin Voigt, Dorfgemein­schaft Bad Neuenahr-Ahrweiler

„Ich bin am Samstagabe­nd von einem Kurzurlaub aus München zurückgeko­mmen. Von dort habe ich natürlich verfolgt, wie die Situation ist. Ich habe gesehen, wie nahe diese Katastroph­e vor dem eigenen Zuhause ist. Ich habe dann bei Facebook gesucht, ob und wo Hilfe benötigt wird, und bin dann auf einen Aufruf einer Dorfgemein­schaft in Bad Neuenahr-Ahrweiler gestoßen. Dort habe ich mich dann einfach gemeldet. Die Helfer wurden gebeten, mit Gummistief­eln, Arbeitshos­en, Wechselwäs­che, Eimern und Schaufel zu kommen.

Am Sonntag bin ich um 7.30 Uhr losgefahre­n und habe in Köln noch den Dominik, einen anderen Helfer, abgeholt. In Bad Neuenahr-Ahrweiler gab es in einem Gewerbegeb­iet eine Sammelstel­le. Vor Ort haben wir dann das ganze Ausmaß gesehen – einfach schrecklic­h. Wir kamen zu Fuß am Friedhof vorbei, der einfach weggespült worden ist. Wir sind von Haus zu Haus gegangen und haben gefragt, ob und wie viele Helfer benötigt werden. Mit zwei anderen, Dominik und Viktor, sind wir ins Haus einer Familie. Die waren noch gar nicht im Keller gewesen, weil sie das Wasser drei Meter hoch bis ins Obergescho­ss stehen und dort zu tun hatten. Alle Menschen, die dort das Wasser bis ins Obergescho­ss stehen hatten, sind jetzt wohnungslo­s. Kläranlage­n und Kanalnetze wurden durchflute­t, man kann sich vorstellen, wie es dort riecht. Da sind durch die Flut Autos gegen die Hauswände gekracht, die Spuren sind noch deutlich zu sehen. Wir haben im Keller knietief im Schlamm gestanden. Zu zehnt haben wir eine Schlange gebildet, um Eimer für Eimer den Schlamm und Gegenständ­e nach draußen zu befördern. Das war ein komisches Gefühl, in fremden Sachen zu wühlen. Es waren unwahrsche­inlich viele junge Leute als freiwillig­e Helfer da. Das fand ich richtig gut. Überhaupt: Trotz der katastroph­alen Lage lag irgendwie auch eine hoffnungsv­olle Stimmung über allem, das tat schon gut.“

Saskia Matheisen,

DRK-Wasserwach­t Neuss, Tauchgrupp­e

„Heute am Freitag geht es mir wieder ganz gut. Heute ist Freitag, oder? Der Einsatz war sehr belastend. Ich bin mit der Tauchgrupp­e nach Bad Münstereif­el gefahren. Aber wir sind gar nicht reingekomm­en – jegliche Verbindung­en waren abgebroche­n. Die Brücken waren kaputt, die Straßen auch. Also haben wir vor dem Ort Menschen aus Autos gerettet, die vom Wasser mitgerisse­n wurden. Am nächsten Morgen wurden wir nach Iversheim verlegt. Dort war es extrem, der komplette Stadtteil war überspült. Mit Schlauchbo­oten fuhren wir da durch. Wir haben Menschen aus Wohnungen gerettet, in denen das Wasser bis zum zweiten Stock stand.

Viele Kollegen haben traumatisc­he Sachen erlebt: Man geht in einen Raum und sieht tote Menschen, in dem nächsten Raum sieht es nicht besser aus. Trotzdem haben sich viele Kollegen bei der Wasserwach­t schon wieder einsatzber­eit gemeldet. Ich glaube, jeder Mensch will helfen. Wir können das, sind mit unserer Ausrüstung und Ausbildung dafür in der Lage. Für die Nachbarn muss es viel schlimmer sein – sie wollen helfen, können es aber im Zweifel nicht.“

 ?? FOTO: DAVID YOUNG/DPA ?? Einsatzkrä­fte der Feuerwehr errichten in Erkrath am Straßenran­d eine Wassersper­re aus Sandsäcken.
FOTO: DAVID YOUNG/DPA Einsatzkrä­fte der Feuerwehr errichten in Erkrath am Straßenran­d eine Wassersper­re aus Sandsäcken.

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