Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Wenn Leben in Gefahr sind, macht niemand Pause“
Sie haben Menschen gerettet, Tote gesehen und trotzdem weitergemacht: Tausende Helfer kämpfen seit Mittwoch für die Betroffenen der Flut. Hier sprechen sechs von ihnen über ihre Einsätze.
Timo Clames, Johanniter-Unfallhilfe, Betreuung von Evakuierten.
„Am Mittwochmittag bekam ich einen Alarm mit dem Stichwort ‚Betr-250+’. Das heißt, es müssen 250 Personen oder mehr evakuiert und betreut werden. Ich habe meinen PC ausgeschaltet, meine Sachen gepackt und fuhr zur Wache. Es wurde geschätzt, dass in die Betreuungsstelle, eine Schule in Düsseldorf, 1000 Betroffene kommen. Sie hatten keinen Strom mehr und brauchten eine Unterkunft. Ich habe dann die Räume in der Schule gesichtet. Man muss alle Eventualitäten beachten: Haben wir separate Räume und Toiletten für Corona-Infizierte? Kommen Leute mit Rollstuhl rein und raus? Wo kann eine Verpflegung stattfinden? Ich war immer zwischen den Räumen unterwegs. Man muss auch aufpassen, dass die Helfer nicht wegen der Anstrengung umfallen wie die Fliegen. Aber in solchen Fällen kann man müde sein und trotzdem funktionieren – man gibt in dem Augenblick oft mehr als 100 Prozent.“
Tim Feister, Malteser, Koordination der Einsätze
„Im Alltag leite ich die Geschäfte bei den Maltesern. Aber in Katastrophenlagen ist es anders. Zwischen Mittwochmorgen und Donnerstagmittag habe ich 25 Stunden nicht geschlafen. Ich bin müde, aber man funktioniert irgendwann automatisch. Die meiste Zeit war ich in dem Raum der Hauptfeuerwache in Leverkusen – dort kommen minütlich neue Meldungen rein, das ganze Stadtgebiet ist ein Einsatzort. Wir haben vor uns diverse Monitore und Tafeln, die die aktuelle Lage möglichst genau abbilden. Wir versuchen, von der Zentrale aus die Einsatzkräfte der Feuerwehr, der Malteser und der anderen Organisationen systematisch zu steuern. Dabei ist Fingerspitzengefühl gefragt. Ein vollgelaufener Keller, der keine Menschenleben gefährdet, muss im Zweifel liegenbleiben. Wir mussten in Leverkusen zwei Intensivstationen und ein Altenheim evakuieren. Die Evakuierten haben irgendwann Hunger und Durst, das gilt auch für die Einsatzkräfte, auch ihre Verpflegung koordinieren wir. Man merkt in solchen Lagen, wie wichtig die Ehrenamtlichen sind. Wenn Menschenleben in Gefahr sind, macht niemand von ihnen Pause.“
Jan Poschmann,
Freiwillige Feuerwehr Schwelm
„Wir sind mit unserem Feuerwehrauto mittwochabends nach Lüdenscheid gefahren. Als wir da waren, war Altena schon von der Außenwelt abgeschnitten. Schnell danach kam die traurige Nachricht, dass ein Kamerad ums Leben gekommen ist. Das trübt die Stimmung natürlich. Man hat einen Moment, um das zu verdauen, und dann kommt der nächste Einsatz. Wir hatten zweimal Gasalarm-Einsätze. Bei dem einen ging es um einen großen schwimmenden Gastank, der sich gelöst hatte. Wir haben zwei Kameraden angeleint und ins Wasser gesteckt. Sie mussten sich langsam vortasten, um diesen Gastank mithilfe eines Baums und eines Zauns an Ort und Stelle zu fixieren. Dann haben wir auch viele Keller leergepumpt, einen nach dem anderen. Alle Kollegen, mit denen ich im Einsatz war, haben am Mittwochmorgen normal gearbeitet. Ich war erst am nächsten Tag zu Hause und fast 30 Stunden wach. Wir machen natürlich Pausen. Dann trinkt man einen Kaffee, legt die Beine hoch, darf für fünf Minuten zusammenbrechen – dann einen zweiten Kaffee, und weiter geht’s.“
Kevin Rheinfelder,
DRK Niederrhein, Einsatzführung
„Um 19.30 Uhr am Mittwoch gab es den scharfen Alarm für den Wasser-Rettungszug. Wir haben uns zusammen auf einem Parkplatz am Duisburger Zoo getroffen und wussten zunächst nicht, wohin wir fahren sollen. Zunächst hieß es Aachen, dann Erftstadt, dann wurde es doch der Kreis Euskirchen. Als wir ankamen, erhielten wir die Aufgabe, Leute von den Hausdächern zu evakuieren. Da war schon bekannt, dass es Tote gibt. Man hat in einer solchen Lage auch im Hinterkopf, dass es eine große Eigengefährdung gibt. Alle machen mit, denn der Auftrag heißt: Menschenleben retten. Mein Team ist nach Schleiden gefahren, in den Stadtteil Gemünd. Zu dem Zeitpunkt gab es fast keinen Strom im Kreis. Man fährt durch dunkle Straßenzüge, überflutete Straßen, in die Ungewissheit rein. Es gibt keine
Internetverbindung, die Straßenbeleuchtung ist aus – und man schickt ein Boot in die Dunkelheit rein. Ich war über Funk im ständigen Kontakt mit den Teams in den Booten und habe die medizinische Versorgung organisiert. Wir haben Menschen gerettet. Aber auch Verstorbene gesehen, die im reißenden Fluss an uns vorbeigezogen sind. Man muss dann weiter funktionieren für die Menschen, denen noch zu helfen ist. Ich gehe davon aus, dass wir am Wochenende in den nächsten Einsatz fahren.“
Martin Voigt, Dorfgemeinschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler
„Ich bin am Samstagabend von einem Kurzurlaub aus München zurückgekommen. Von dort habe ich natürlich verfolgt, wie die Situation ist. Ich habe gesehen, wie nahe diese Katastrophe vor dem eigenen Zuhause ist. Ich habe dann bei Facebook gesucht, ob und wo Hilfe benötigt wird, und bin dann auf einen Aufruf einer Dorfgemeinschaft in Bad Neuenahr-Ahrweiler gestoßen. Dort habe ich mich dann einfach gemeldet. Die Helfer wurden gebeten, mit Gummistiefeln, Arbeitshosen, Wechselwäsche, Eimern und Schaufel zu kommen.
Am Sonntag bin ich um 7.30 Uhr losgefahren und habe in Köln noch den Dominik, einen anderen Helfer, abgeholt. In Bad Neuenahr-Ahrweiler gab es in einem Gewerbegebiet eine Sammelstelle. Vor Ort haben wir dann das ganze Ausmaß gesehen – einfach schrecklich. Wir kamen zu Fuß am Friedhof vorbei, der einfach weggespült worden ist. Wir sind von Haus zu Haus gegangen und haben gefragt, ob und wie viele Helfer benötigt werden. Mit zwei anderen, Dominik und Viktor, sind wir ins Haus einer Familie. Die waren noch gar nicht im Keller gewesen, weil sie das Wasser drei Meter hoch bis ins Obergeschoss stehen und dort zu tun hatten. Alle Menschen, die dort das Wasser bis ins Obergeschoss stehen hatten, sind jetzt wohnungslos. Kläranlagen und Kanalnetze wurden durchflutet, man kann sich vorstellen, wie es dort riecht. Da sind durch die Flut Autos gegen die Hauswände gekracht, die Spuren sind noch deutlich zu sehen. Wir haben im Keller knietief im Schlamm gestanden. Zu zehnt haben wir eine Schlange gebildet, um Eimer für Eimer den Schlamm und Gegenstände nach draußen zu befördern. Das war ein komisches Gefühl, in fremden Sachen zu wühlen. Es waren unwahrscheinlich viele junge Leute als freiwillige Helfer da. Das fand ich richtig gut. Überhaupt: Trotz der katastrophalen Lage lag irgendwie auch eine hoffnungsvolle Stimmung über allem, das tat schon gut.“
Saskia Matheisen,
DRK-Wasserwacht Neuss, Tauchgruppe
„Heute am Freitag geht es mir wieder ganz gut. Heute ist Freitag, oder? Der Einsatz war sehr belastend. Ich bin mit der Tauchgruppe nach Bad Münstereifel gefahren. Aber wir sind gar nicht reingekommen – jegliche Verbindungen waren abgebrochen. Die Brücken waren kaputt, die Straßen auch. Also haben wir vor dem Ort Menschen aus Autos gerettet, die vom Wasser mitgerissen wurden. Am nächsten Morgen wurden wir nach Iversheim verlegt. Dort war es extrem, der komplette Stadtteil war überspült. Mit Schlauchbooten fuhren wir da durch. Wir haben Menschen aus Wohnungen gerettet, in denen das Wasser bis zum zweiten Stock stand.
Viele Kollegen haben traumatische Sachen erlebt: Man geht in einen Raum und sieht tote Menschen, in dem nächsten Raum sieht es nicht besser aus. Trotzdem haben sich viele Kollegen bei der Wasserwacht schon wieder einsatzbereit gemeldet. Ich glaube, jeder Mensch will helfen. Wir können das, sind mit unserer Ausrüstung und Ausbildung dafür in der Lage. Für die Nachbarn muss es viel schlimmer sein – sie wollen helfen, können es aber im Zweifel nicht.“