Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Damit gibt man den Spielern ein Alibi“
Der Ex-Kapitän ist jetzt U16-Trainer in Graz und beginnt eine ManagerAusbildung. Wie er Borussias Situation beurteilt welche Rolle der Klub in seiner Zukunftsplanung spielt.
Herr Stranzl, geben Sie ein kurzes Update: Wie geht es Ihnen und wie geht es mit der Trainerausbildung voran?
Es passt schon bei mir. Ich habe als Cheftrainer der U16 beim Grazer AK viel zu tun. Ich habe etwas vor, will etwas entwickeln. Das ist nicht leicht, wir haben da in Österreich im Grunde die gleichen Themen, die den deutschen Fußball beschäftigen. Da kämpft man oft gegen Windmühlen.
Welche Themen sind das?
Es wird vergessen, sich im unteren Bereich um die wesentlichen Dinge zu kümmern, auf die es im Fußball ankommt. Es ist grundsätzlich die Frage, ob die Schwerpunkte richtig gesetzt sind. Die Talente werden zu sehr in Konzepte gezwängt, sie können sich nicht frei entwickeln. Es wird zu viel auf Analysen aufgebaut, zu viel mit Zahlen und Daten gearbeitet, statt auf das zu schauen, was auf dem Platz ist. Dafür braucht es Trainer, die aus der Praxis kommen – leider gehen zu wenige Ex-Profis den Weg über die Nachwuchsabteilungen. Dabei sind sie gerade da wertvoll mit ihrer Erfahrung.
Sie haben sich für den Weg entschieden. Aber es gibt auch das Ziel, später „oben“zu arbeiten?
Erst mal bin ich 100 Prozent fokussiert auf den Job beim Grazer AK. Und ich will mich breit aufstellen. Die Uefa-A-Lizenz habe ich, nun mache ich das Uefa-Elite-Junioren-Diplom. Und ich habe mich für die Diplomausbildung für Sportliche Leiter angemeldet. Es ist gut, in allen Bereichen einen Background zu haben, das ist mir durch die Arbeit als Nachwuchstrainer klar geworden – und ja, ich kann mir auch vorstellen, später im Bereich Management in einem Klub zu arbeiten, ob im Nachwuchs- oder im Profi-Bereich.
Borussia ist, was die Zukunft angeht, eine Option?
Absolut. Der Verein weiß, dass ich jetzt andere Schwerpunkte setze und mich ausbilde. Aber wir haben gesprochen und Borussia weiß, dass sie der Verein meines Herzens ist. Dass ich mir eine Rückkehr vorstellen kann in Zukunft, habe ich immer gesagt. Aber es muss für alle Seiten passen. Im Moment bin ich an der richtigen Stelle.
Borussia hat gerade Probleme – vor allem mit der Torverhinderung. 53 Gegentore gab es in 27 Spielen. Sie waren früher in Gladbach der Abwehrchef der zwischenzeitlich besten Abwehr Europas – was war das Geheimnis?
Es ist, was ich vorhin sagte: Wir haben uns auf das Wesentliche konzentriert. Wir hatten Spieler, die waren für die Offensive zuständig, und Spieler, die nur einen Auftrag hatten: zu verteidigen und die Bude sauber zu halten. Wir Verteidiger und die Sechser wussten: Die vier da vorn machen schon ein Tor. Glauben Sie mir, wenn einer da nicht korrekt mitgearbeitet hat, wurde es ungemütlich. Aber das war unser Gerüst, gerade in Phasen, in denen es nicht gut lief. Wir wussten, was zu tun ist, und konnten gegensteuern. Auch später bei Dieter Hecking war das die Basis, von der Marco Rose in seinem ersten Jahr noch profitiert hat. Bei ihm und Adi Hütter gab es dann andere Schwerpunkte, da ging es vor allem darum, vorn Attacke zu machen. Dafür brauchst du aber die richtigen Spieler, und die hatte Gladbach nicht. Sich wieder zu finden, dauert. Und in der Phase ist Gladbach jetzt.
Martin Stranzl: „Das war immer der Weg in Gladbach“
Ist die fehlende Stabilität das Hauptproblem?
Ein Problem, ja. Dazu kommt, dass in der Corona-Zeit wichtige Transfers nicht stattgefunden haben, um das Team immer wieder zu erneuern. Das war immer der Weg in Gladbach. Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt: Um das wieder aufzuholen, wird es bis zu zehn Transferperioden dauern. Da brauchst du einen Trainer, der das mitmacht und aushält. Da ist auch der Klub gefragt. Dass es eine Geduldsprobe ist, sieht man in dieser Saison. Es muss sich wieder ein Kern herausbilden, der konstant da ist, dazu muss frisches Blut kommen. Wichtig ist: Die Leute müssen das Gefühl haben, dass es in die richtige Richtung geht, dafür braucht es richtige Entscheidungen und einen klaren Plan, wohin es gehen soll. Den vermisse ich im Moment etwas.
Im DFB-Pokal wurde in Saarbrücken eine Chance vertan, vielleicht etwas Großes zu erreichen. Das hätte die Entwicklung vorantreiben können wie 2012 die EuropapokalTeilnahme.
Wir sind damals in Darmstadt aus dem Pokal geflogen, das kann immer passieren. Aber es war eine andere Situation, es wirkte alles stabiler, die Leute hatten Vertrauen. Und wir hatten Spieler, die genau verstanden haben, was es bedeutet, für Gladbach zu spielen. Ich fand es immer gut und wichtig, dass wir als Team einen direkten Austausch mit den Fans hatten – da war jeder gefragt. Es geht um Verantwortung. Wir hatten einige Jungs, die vorangegangen sind, in der Kommunikation, auf dem Platz: Filip Daems, Dante, später Granit Xhaka, ich. Und wir waren ein Team, in dem jeder für den anderen Verantwortung übernommen hat – darauf kommt es an. Nur wenn alle mitmachen und in eine Richtung gehen, passt es – auch wenn es sich abgedroschen anhört.
Ein Faktor ist, Kritik richtig zu deuten.
Richtig. Leider ist das Wort für viele Menschen nur noch negativ belegt. Kritik meint ja nicht nur draufhauen – man kann viel daraus ziehen, wenn man damit richtig umgeht.
Sie waren immer einer, der gerade, wenn es gut lief, Probleme angesprochen hat. Wir haben das „stranzln“genannt.
(lacht) Ach, das wusste ich gar nicht. Klingt doch gut. Aber es ist einfach so, dass die Leute vor allem in guten Phasen aufnahmebereit sind für sensible Themen. In kritischen Phasen ist jeder zu sehr mit sich beschäftigt, da macht man dicht.
Sie haben erst mal Abstiegskampf erlebt. Der Borussia-Park, der in diesem Jahr 20 Jahre alt wird, hatte dann einen entscheidenden Moment: das Relegations-Tor gegen Bochum. Ihr emotionalster Moment in Gladbach?
Ich habe es ja immer gesagt: Ich habe nie einen Titel geholt, aber das, was wir in Gladbach erreicht haben, erst die Relegations-Rettung, dann der Weg in die Champions League, das war für mich meine Meisterschaft.
Sie haben immer gesagt: „Ich trete an, um Meister zu werden.“
Und ich wurde dafür verlacht. Aber wofür geht man denn sonst in eine Saison im Fußball? Man setzt sich das höchste Ziel und schaut, wie nah man herankommt. Ex-Gladbacher Stranzl: Ziele zu definieren, ist wichtig
Was Gladbach anging, haben Sie mal formuliert, dass 25, 26 Punkte pro Halbserie das Ziel sind.
Das war nach der Relegation. Wir haben in der zweiten Halbserie 2010/11 26 Punkte geholt, es war dann unser Ziel, die immer zu erreichen – mindestens. Warum sollte das nicht auch jetzt der Maßstab sein? Dass es Ausreißer nach oben und unten gibt, gehört dazu. Aber ich finde es wichtig, dass man als Klub und als Team möglichst hohe und klare Ziele definiert. Wenn man sie nicht erreicht, muss man schauen, woran es gelegen hat, und daran arbeiten, es beim nächsten Mal besser hinzukriegen.
Borussia hat vor der Saison gesagt, dass es eine mit Aufs und Abs werden könnte. Es ist so gekommen.
Das Problem ist: Damit gibt man den Spielern ein Alibi, wenn es nicht läuft, nach dem Motto: Wir haben ja gesagt … So etwas sollte man vermeiden. Lieber klare Ziele definieren, jeder für sich, für das Team, für den Klub – und dann alles dafür tun, sie zu erreichen. Man darf eine Mannschaft ruhig auch fordern. EM: Stranzl traut Österreich das Viertelfinale zu
Apropos: Welche Ziele hat Österreich bei der EM in Deutschland?
STRANZL
Ich halte das Viertelfinale für realistisch. Wir haben einen richtig guten Lauf, die Euphorie im ganzen Land ist groß. Ich hoffe, dass wir das Level beim Turnier halten können. Ich werde mir zwei Spiele vor Ort ansehen: das gegen Frankreich in Düsseldorf und dann gegen Polen in Berlin. Spannend aus Trainersicht ist für mich, ob die Jungs dem Erwartungsdruck standhalten können und ob sie den intensiven Stil mit dem Anlaufen und dem schnellen Umschalten, den Ralf Rangnick dem Team beigebracht hat, im Turnier durchziehen können. Ich habe noch keine Mannschaft erlebt, die ein so aufwendiges Spiel über mehrere Wochen in einem Turnier durchziehen kann.
Zwei Ihrer Landsleute, die jetzt in Gladbach spielen, werden wohl dabei sein: Max Wöber, der Ihre Nummer 39 übernommen hat, und Stefan Lainer, der nach seiner Krebserkrankung wieder da ist.
Für Stevie freut mich das sehr. Allerhöchsten Respekt, dass er nach dieser schrecklichen Nachricht so zurückgekommen ist. Ich bin gespannt, ob er in Gladbach verlängert, der Verein würde es ja gern tun. Dass Max die Nummer 39 bekommen hat, wundert mich – ich dachte, die wird nach mir nie wieder vergeben (grinst). Aber im Ernst: Max muss sich entscheiden im Sommer – wichtig finde ich, dass er sich klar positioniert, wenn er in Gladbach bleiben will. Das hat mir bei Julian Weigl gefallen, der bei Benfica Lissabon klar gesagt hat, dass er zu Gladbach will. Dann ging auch was. Borussia braucht Spieler, die sich identifizieren, die wissen, was der Verein bedeutet, und die unbedingt für ihn spielen wollen. Darum finde ich es gut, dass Rainer Bonhof als Präsident Nachfolger ist von Rolf Königs, der für die Neuausrichtung und den strukturellen sowie wirtschaftlichen Aufschwung des Klubs gesorgt hat. Bonhof steht für alles, was Gladbach ausmacht, und kann das den Spielern vermitteln.