Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
„Ich bin Drogendealer und kein Mörder“
Mord-Prozess in Siegen: Erstmals kommt die Version des Mannes zur Sprache, der in Elten seine Lebensgefährtin getötet haben soll.
Der Sachverständige hält den Angeklagten für voll schuldfähig. Der Psychiater Dr. Thomas Schlömer hat den 24-Jährigen untersucht, der hat dem Facharzt auch seine Version der Tat geschildert. Das geht aus dem Gutachten hervor, das im Landgericht Siegen vorgestellt wurde. Der Beschuldigte habe den Mord seinen eigenen Angaben zufolge nicht begangen, sondern der Mann, der in der Nacht auf den 14. August 2023 mit zur niederländischen Grenze nach Elten gefahren war und der im Prozess als Hauptbelastungszeuge aufgetreten ist. Dr. Schlömer gibt in seinem Gutachten zudem die Schilderungen des Angeklagten zu seiner Biografie und der Beziehung zum Opfer wieder.
Schon in der Kindheit in Syrien sei er früh körperlich misshandelt worden, erzählte der Beschuldigte demnach dem Psychiater. Die Schule habe er nur von vier bis sieben Jahren besucht, eine Lehrerin habe ihn dort schwer verprügelt. Schon mit fünf Jahren habe er selbst einen Mitschüler zusammengeschlagen, weil der ihn beleidigt habe.
Danach arbeitete er in einer Autowerkstatt, der Chef habe ihn fortwährend misshandelt. Zeitweise sei er von zu Hause weggelaufen, wenngleich seine Eltern, Bauarbeiter und Hausfrau, ihn wohl nie geschlagen hätten. Zu ihnen habe er bis heute ein gutes Verhältnis. Insgesamt hat er sieben Geschwister. Mit zehn Jahren habe er angefangen zu rauchen, sei Mitglied einer Jugendbande geworden, auch in Jugendhaft gewesen. In seiner Nachbarschaft habe es viel Gewalt gegeben, er habe viele Tote gesehen. Seit der Jugend verletze er sich selbst.
Die Familie sei in Syrien umgezogen, er habe dann in der Ölindustrie gearbeitet. Später in der Türkei habe er Gartenarbeiten verrichtet. In Deutschland, nach Sprachkurs und Berufskolleg, sei er Lagerhelfer gewesen, habe dann entschieden, Drogendealer zu werden. Laut Gutachter, „um reich zu werden“. Mit 19 Jahren habe er mit dem Trinken angefangen, eine Flasche Wodka am Tag, später dann weniger, aber dafür Cannabis, seit Jahren zehn Gramm pro Tag. Ein entsprechendes Langzeitgutachten bestätigt das laut Dr. Schlömer zumindest für die Wochen vor der Tat nicht; ebenso wenig den unregelmäßigeren Konsum von zahlreichen weiteren Drogen, die der Angeklagte in dieser Zeit konsumiert haben will. Cannabis ja, aber deutlich weniger als behauptet.
Das spätere Opfer habe der Angeklagte kennengelernt, als beide 18 waren; sie hätten nach islamischem Ritus geheiratet. Angeblich habe sie sich prostituiert, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren – er habe sie dort herausholen wollen. Sie sei seine erste Freundin gewesen. Wenn er später fremdgegangen sei, was wiederholt vorkam, dann nach einem der vielen Konflikte, von denen auch zahlreiche Zeugen bereits berichtet hatten. Außer Eltern und Lebensgefährtin habe er keine Freunde oder andere Menschen, die ihm nahestünden.
Er liebe die Mutter seiner Kinder immer noch, könne nicht fassen, dass sie tot sei, werfe sich vor, dass er sie im Drogenrausch nicht habe schützen können, habe der Angeklagte dem Psychiater erzählt. Seine beiden Kinder habe er als seine größte Schwäche bezeichnet.
Am Tag vorher sei der Angeklagte mit seiner „Zweitfrau“, die bereits als Zeugin ausgesagt hat, in Frankfurt gewesen, dann bei seiner Freundin, die bis zu diesem Tag nichts von dieser Nebenbeziehung gewusst habe. In einem unbeobachteten Moment habe sie in seinem Handy entsprechende Nachrichten gelesen, es sei zum Streit gekommen. Er habe sich entschuldigt, zur Versöhnung einen Kurzurlaub in den Niederlanden angeboten. Da er keinen Führerschein mehr hatte, suchte er einen Fahrer und fand den ihm oberflächlich bekannten Zeugen. Gegen Mitternacht ging es von Siegen aus los.
Nach einer Pause habe der Angeklagte LSD und Tabletten genommen, Wahnvorstellungen entwickelt. Der Halt auf dem Feldweg in Elten: eine Pinkelpause. Danach hätten sie zu dritt eine Zigarette geraucht, als der andere Mann unvermittelt ein Messer gezogen und die Frau getötet habe. Sie habe ihn demnach wohl mit einem Video erpresst, das ihn beim Menschenschmuggel zeige – der Zeuge ist Beschuldigter in einem Verfahren wegen illegaler Einschleusung.
Er selbst, so der Angeklagte zum Gutachter, sei zu berauscht gewesen, um einzugreifen. Mit seiner Kleidung habe er das Blut von der Waffe und den Händen des anderen wischen müssen, behauptete er demnach weiter. Sie seien zurück nach Siegen gefahren, hätten die Kinder bei den Großeltern abgesetzt, Messer und blutige Kleidung entsorgt, das Mietauto gereinigt und zurückgegeben. Danach sei er ziellos durch Siegen geirrt und irgendwann mit dem Taxi zu seinen Eltern gefahren, wo er umgehend von der Polizei festgenommen wurde.
Er sei zu Unrecht im Gefängnis, habe der Angeklagte beteuert: Er könne die Langeweile kaum ertragen, leide unter der Haft und unter
Alpträumen durch die Tat, habe Angst, seine Kinder nicht wiederzusehen. „Ich bin Drogendealer und kein Mörder.“Laut Spuren und Zeugenaussagen habe der Angeklagte die Frau zu Oralsex mit dem Zeugen aufgefordert und sie dann hinterrücks mit einem Messer getötet.
Emotional instabil, BorderlinePersönlichkeitsstörung, fasst der Facharzt zusammen. Der Angeklagte sei überdurchschnittlich reizbar und labil. Auch bei ihm gebe es wie bei jedem Menschen eine Schwelle zur Gewalt – aber sie sei sehr viel niedriger als im Durchschnitt. Er sei nachtragend und insbesondere wenn er kritisiert oder beleidigt werde, schnell sehr aggressiv.
Er habe Probleme mit dem Alleinsein, könne Trennungen nur schwer verkraften. Der Gutachter stellt narzisstische Züge beim Angeklagten fest: Es sei ihm wichtig, dass andere Menschen ihn beachten und bewundern und sei der Ansicht, dass gesellschaftliche Regeln für ihn nicht gelten. „Er bezeichnete sich als Drogenhändler, so als wäre das eine normale Tätigkeit“, sagt Dr. Schlömer. Gleichzeitig gebe es auch fürsorgliche Persönlichkeitsanteile. Dies schwanke dabei sehr stark – von bedingungsloser Liebe zu Hass und Gewalt innerhalb kurzer Zeit. Er sei dann ganz von Hass erfüllt. Und Konflikte, so Schlömer, habe es in dieser „explosiven Partnerschaft“wohl häufig gegeben. Womöglich habe auch die Getötete entsprechende Persönlichkeitstendenzen gehabt.
Die Persönlichkeitsstörung ist nach Einschätzung des Sachverständigen sowohl für die Tat als auch die vielen Konflikte und das Scheitern in wichtigen Lebensbereichen des Angeklagten verantwortlich. Der Drogenmissbrauch sei ein Teilaspekt davon, Cannabis wirke aber eher beruhigend, als das aufbrausende Wesen des Beschuldigten zu verstärken.