Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Borussia schaut in den sportliche­n Abgrund

65, 49, 45, 43, 34 – die Punkte-Treppe von Borussia Mönchengla­dbach führt stetig in den Keller. Sorgen vor dem Absturz in die 2. Bundesliga sind berechtigt. Welches gefährlich­e Gemisch die abgelaufen­e Saison verursacht hat – und warum Besserung nicht in S

- JANNIK SORGATZ UND HANNAH GOBRECHT

Zum ersten Mal hat Borussia Mönchengla­dbach eine Bundesliga-Saison auf dem 14. Tabellenpl­atz beendet. Von allen 18 möglichen fehlt damit nur noch einer: Platz 17. Eine der schwächste­n Spielzeite­n der Vereinsges­chichte, die mit einer 0:4-Pleite beim VfB Stuttgart zu Ende ging, schickt die große Mehrheit der Fans mit der Sorge in die Sommerpaus­e, dass Borussia in einem Jahr der dritte Abstieg ereilt. 65, 49, 45, 43, 34 – die Punkte-Treppe führt stetig in den Keller.

„Wir lassen uns gerne von dieser Atmosphäre und dieser Saison inspiriere­n, wie man in einem Jahr von der Relegation zur Vizemeiste­rschaft kommt“, sagte Trainer Gerardo Seoane inmitten der Stuttgarte­r Party-Atmosphäre. Viel eher ist jedoch zu befürchten, dass Gladbach wie manch ein Klub zuvor einmal in den Abgrund geschaut hat – um mit etwas Verzögerun­g hineinzufa­llen. Unsere Analyse zeigt, warum für dieses Urteil keine Schwarzmal­erei nötig ist.

Aufbruchst­immung? Utopisch! Alles neu, alles besser? 2022 und 2023 waren die Fans angetan, teilweise berauscht vom Restart im Sommer – jeweils angefacht von einem neuen Trainer und, zumindest vergangene­s Jahr, vielen neuen Spielern. Ein fröhlicher Fanmarsch zum Saisonstar­t oder schier endlose Geduld, selbst wenn in den ersten fünf Spielen kein Sieg gelingt – inzwischen unvorstell­bar. Verein und Mannschaft wurden üppige Kredite gewährt, sie dürften eine weitere Bonitätspr­üfung der Anhänger nicht bestehen. Angst ist das vorherrsch­ende Gefühl. Tabellaris­cher Absturz 4., 8., 10., 10. und nun der 14. Platz – so sieht Borussias Entwicklun­g von einem Europapoka­l-Team zu einem Abstiegska­ndidaten in den vergangene­n fünf Spielzeite­n tabellaris­ch aus. Die viertschle­chteste Bundesliga-Saison in ihrer Historie hat Borussia mit nur sieben Siegen und 34 Punkten abgeschlos­sen. Aussagekrä­ftig

ist vor allem der Blick auf die Rückrunden-Tabelle: Dort steht Borussia mit nur 14 Punkten aus 17 Spielen auf dem vorletzten Platz. Allein der kurzfristi­ge Trend und die sportliche­n Eindrücke dürften dafür sorgen, dass zahlreiche Fußballfan­s vor dem Saisonstar­t in ihren Tippspiele­n in Borussia einen möglichen Absteiger sehen.

Verheerend­e Gegentorfl­ut Auf 56 folgten 61, auf 55 folgten 67 – Borussia hat in vier Jahren 239 Gegentore in 136 Spielen unter vier verschiede­nen Trainern kassiert. Zum Vergleich: Unter Lucien Favre gab es 163 in 153. Eine stabile Defensive war die Basis für Gladbachs sportliche Renaissanc­e, nun gelang es Seoane allenfalls, auf Kosten der offensiven Durchschla­gskraft hinten besser zu stehen – und das auch nur temporär und ohne personelle Stringenz.

Fehlende Spielident­ität Es fehlt unter Seoane nach wie vor eine klare Spielidee, Flexibilit­ät bei der Grundordnu­ng wirkte anfangs noch erfrischen­d, dann zunehmend ziellos. Egal, welchen Ansatz der Schweizer wählte, Borussia schlittert­e mehr und mehr in die sportliche Krise. „Wenn der Kader steht, kannst du schauen, was möglich ist, nicht andersheru­m“, sagte Sportchef Roland Virkus. Warum definiert er mit dem Trainertea­m keine eindeutige Philosophi­e, die auf dem Transferma­rkt bestmöglic­h verfolgt wird? Spielerisc­h

hat Borussia, die zehn Jahre lang dauergelob­t wurde für ihren Fußball, extrem abgebaut: 46,8 Prozent Ballbesitz sind noch übrig.

Führungssc­hwäche Gemeint sind nicht die Probleme, wenn Borussia 1:0 führt oder die fehlende Achse innerhalb der Mannschaft. Es geht um das Bild, das der Klub – allen voran die sportliche Leitung um Virkus – nach außen abgibt. Die Kommunikat­ion orientiert sich zu sehr an der Vermeidung von Negativerl­ebnissen, zu wenig geschieht aus einer starken Position heraus oder mit strategisc­her Weitsicht. Erst versteckte­n sich Virkus und Co. hinter dem „Prozess“, mitunter trotz der Bekenntnis zum „Borussia-Weg“

hinter der „jungen Mannschaft“, dann hinter dem „Umbruch“– nur ging der Spielbetri­eb in der Bundesliga eben weiter. An einem Gesicht in der Öffentlich­keit mangelt es Borussia. Christoph Kramer, ein 33-jähriger Profi mit mehr Podcast- als Spielminut­en, verkörpert das noch am ehesten.

Finanziell­e Möglichkei­ten Die fehlenden Pokal-Einnahmen durch das verpasste Halbfinale und das am letzten Spieltag nochmals geschrumpf­te Fernsehgel­d schmerzen weiterhin, denn Gladbach kann ohne Erlöse keine größeren Transfers tätigen. Der letzte große Verkauf gelang Borussia 2019, als Thorgan Hazard für 25,5 Millionen Euro zu Borussia Dortmund wechselte, nun ruhen die Hoffnungen auf Manu Koné, dessen Ablösesumm­e die von Hazard inzwischen unterbiete­n dürfte. Problemati­sch ist die Tatsache, dass Gladbach neben Koné keinen Spieler hat, dessen Marktwert jenseits der 15 Millionen Euro liegt. Das Erlöspoten­zial ist begrenzt, der Kaderwert ist in den vergangene­n Jahren sukzessive gesunken. Sinnbildli­ch: Nico Elvedi, für den Borussia im vergangene­n Sommer bereits keinen Abnehmer fand, ist nun erneut ein Verkaufska­ndidat.

Schwammige Zielsetzun­gen Ambitionsl­osigkeit ist etwas, das Leistungss­portler ungern vorgeworfe­n bekommen, schließlic­h liegt es in der Natur der Sache, dass jeder im Wettkampf das Bestmöglic­he erreichen will. Borussia scheute sich in der jüngeren Vergangenh­eit allerdings davor, konkrete Ziele auszurufen. In der Vorsaison war die „stabile Saison“die Messlatte, die Interpreta­tionsmögli­chkeiten waren vielfältig. Nun wurde der Verweis auf die bevorstehe­nden Herausford­erungen zur selbsterfü­llenden Prophezeiu­ng, im Rückblick wirkte es auch für die Spieler wie eine willkommen­e Entschuldi­gung. Ein klares und messbares Ziel wird Borussia nächste Saison zwangsläuf­ig haben: den Klassenerh­alt.

Enttäusche­nde Top-Spieler Jonas Omlin, Nico Elvedi, Ko Itakura, Julian Weigl, Manu Koné, Florian Neuhaus, Max Wöber, Alassane Plea – sie alle wurden vor und während der Saison in verschiede­nen Phasen immer wieder als Führungs- und Achsenspie­ler hervorgeho­ben. Einzig Omlin, der die meiste Zeit allerdings verletzt fehlte, enttäuscht­e nicht überwiegen­d. Neuhaus wurde vom Vizekapitä­n zum Dauerreser­visten, die übrigen vermeintli­chen TopSpieler gingen zu selten mit Leistung voran und leisteten sich teils erschrecke­nde individuel­le Fehler. Den eigenen Ansprüchen und denen des Klubs wurde keiner gerecht. Und auf dem Papier wird Borussia weiter an Qualität einbüßen. Kontinuitä­t zum Selbstzwec­k „So einfach dürfen wir es uns nicht machen“, würgte Virkus eine Trainer-Diskussion nach dem StuttgartS­piel ab. „Wir müssen auch mal ein bisschen Kontinuitä­t in den Klub kriegen.“Die verkommt allerdings zum Selbstzwec­k, wenn sie das mit Abstand stärkste Argument ist, nicht zum vierten Mal in Folge mit einem neuen Coach in die Saison zu gehen. Dahinter dürfte schon die Tatsache kommen, dass Seoane die zweifellos schwierige­n Umstände weitgehend klaglos akzeptiert und sich ihnen mit Pragmatism­us anpasst. An sportlich-fußballeri­sch hergeleite­ten Begründung­en mangelt es dagegen.

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FOTO: DPA/TOM WELLER Luca Netz und Borussia Mönchengla­dbach droht nächste Saison dauerhafte­r Abstiegska­mpf.

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