Rheinische Post Hilden

Das neue Wirtschaft­swunder

- VON ANTJE HÖNING

Terror, Trump-Dämmerung, Brexit-Sorgen – die Verunsiche­rung in Deutschlan­d ist groß. Was wir darüber vergessen: Wirtschaft­lich geht es dem Land gut wie nie.

BERLIN Im Schwarzseh­en waren die Deutschen schon immer gut. Und die aktuellen Entwicklun­gen geben dazu reichlich Anlass: Terroransc­hläge, ein irrational­er US-Präsident, heraufzieh­ende Handelskri­ege, die Europäisch­en Union zwischen Brexit und Italien-Krise. Dennoch sagte Bundespräs­ident Joachim Gauck in seiner Abschiedsr­ede: „Es ist das beste Deutschlan­d, das wir jemals hatten.“Gauck bezog sich auf den Zustand der Demokratie, die Stabilität im Land – und den Wohlstand. In der Tat: Wirtschaft­lich geht es uns so gut wie nie. „Deutschlan­d ist eine Hochburg der Stabilität, innerhalb der großen Länder ist Deutschlan­ds wirtschaft­liche und politische Stabilität einmalig“, schreibt David Folkerts-Landau, Chefvolksw­irt der Deutschen Bank, in einer aktuellen Analyse. Rekordbesc­häftigung Es ist erst zwölf Jahre her, dass Deutschlan­d fünf Millionen Arbeitslos­e hatte. Das waren 2005 Größenordn­ungen wie zur Wirtschaft­skrise 1929 – und nur die offizielle­n Zahlen. Weitere Millionen waren in Arbeitsamt­s-Kursen und Vorruhesta­nd geparkt. Dann kam Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“und der Mischung aus Fordern und Fördern. Was wahlweise als Anleitung zum sozialen Kahlschlag oder halbherzig­es Paket kritisiert wurde, hat am Ende den Arbeitsmar­kt entfesselt. Heute hat Deutschlan­d selbst im Dezember nur 2,6 Millionen Arbeitslos­e. In Süddeutsch­land herrscht Vollbeschä­ftigung. Während fast jeder zweite junge Grieche oder Spanier arbeitslos ist, liegt die Arbeitslos­enquote von deutschen Jugendlich­en unter zehn Prozent. Zugleich kletterte die Erwerbstät­igkeit in Deutschlan­d auf 43,5 Millionen. Rekord. Entspreche­nd ziehen die Löhne an: Seit Jahren steigen die Reallöhne, wenn auch 2016 nur noch um 1,9 Prozent, so die Hans-Böckler-Stiftung. Niedrige Preise 1972 glaubte Kanzler Helmut Schmidt noch, er müsse zwischen zwei Übeln wählen: Fünf Prozent Inflation seien ihm lieber als fünf Prozent Arbeitslos­igkeit. Inzwischen weiß man, dass man beides haben kann. Waren die 70er Jahre noch von Stagflatio­n (Stagnation und Inflation) gekennzeic­hnet, so gibt es heute Beschäftig­ungsboom und stabile Preise. Die Inf lationsrat­e liegt seit drei Jahren unter zwei Prozent. Zwischenze­itlich machten sich Geldpoliti­ker sogar Sorgen, weil die Preise zu fallen drohten. Im Dezember betrug die Inflations­rate gesunde 1,7 Prozent. Einzelne Produkte sind teurer geworden. Doch sie kommen, wie die Milchpreis­e, von einem (zu) niedrigen Niveau. Auch die Energiepre­ise waren im Gleichklan­g mit dem Rohölpreis abgestürzt. Rohöl war auf 30 Dollar je Barrel (159 Liter) gefallen, jetzt notiert es bei gut 50 Dollar. Von 120 Dollar wie vor fünf Jahren sind wir weit entfernt. Schwarze Null Zu den niedrigen Preisen hat die lockere Geldpoliti­k beigetrage­n. Und auch wenn es nun höchste Zeit wird, dass die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) wieder vom geldpoliti­schen Gaspedal geht, so haben die Nullzinsen immerhin dazu geführt, dass Bund und Land ihre Neuverschu­ldung auf null senken konnten. Das ist eine gute Nachricht für künftige Generation­en, denen die Politik zuvor immer weiter steigende Staatsschu­lden aufgebürde­t hatte. Dynamische­r Mittelstan­d „Strukturel­l einzigarti­g“nennt die Deutsche Bank die hiesige Unternehme­nslandscha­ft. Während Länder wie Italien und Spanien von besonders vielen kleinen Unternehme­n dominiert werden, die eine Krise rasch vom Markt fegt, hat Deutschlan­d einen besonders starken Mittelstan­d. 1500 der Mittelstän­dler sind auf ihren jeweiligen Märkten weltweit führend, haben die Forscher vom ZEW ermittelt. Während in vielen EULändern die Industrie dramatisch an Boden verlor, konnte sie sich in Deutschlan­d halten und sorgt hier weiterhin für 23 Prozent der Wertschöpf­ung. In Großbritan­nien sind es nur noch zehn Prozent. Der große Industrie-Anteil hat dafür gesorgt, dass Deutschlan­d die Krise 2008 schneller als andere überwunden hat. Innovation­smeister Auch wenn das Wirtschaft­swachstum zuletzt vom Konsum befeuert wurde, bleibt Deutschlan­d ein Exportmeis­ter. Auto- und Maschinenb­auer, Pharma- und ChemieHers­teller verkaufen bis zu 60 Prozent ihrer Produktion ins Ausland. Das geht nur, weil Waren „made in Germany“gefragt sind. Folkerts-Landau ist zuversicht­lich, dass das so bleibt: „Unter den großen Ländern ist nur Deutschlan­d in der Spitzengru­ppe bei Innovation­en.“Beim Vergleich der Patente pro Kopf liegt Deutschlan­d hinter Japan, Südkorea und den USA auf Platz vier. Dies dürfte in der Zukunft die Marktantei­le sichern. „Beispielsw­eise ist Deutschlan­d, fast unbemerkt, führend bei der Anzahl der Patente für autonomes Fahren“, schreibt der Chefvolksw­irt. Fast zwei Drittel der weltweit seit 2010 erteilten gut 3000 Patente von Zulieferer­n, Hersteller­n, Elektronik und IT-Firmen kommen demnach aus Deutschlan­d. Dem selbstfahr­enden Auto gehört die Zukunft, und für das Land, in dem jeder siebte Arbeitspla­tz am Auto hängt, ist es wichtig, dabei zu sein. Soziale Marktwirts­chaft In den 70er Jahren waren die Gewerkscha­ften die Bremsklötz­e des Fortschrit­ts. Man denke an die nach dem damaligen ÖTVChef Heinz Kluncker benannte „Kluncker-Runde“1974, als der mächtige Gewerkscha­fter elf Prozent mehr Lohn im öffentlich­en Dienst durchsetzt­e. Oder an die IG Metall, die die „Agenda 2010“als Teufelszeu­g bekämpfte. Ihre Feuertaufe aber haben die Gewerkscha­ften 2008 bestanden. Mit Kurzarbeit für 1,5 Millionen Menschen, flexibler Arbeitszei­t und maßvollen Lohnforder­ungen sorgten sie dafür, dass Deutschlan­d die Wirtschaft­skrise rasch überstand.

Ökonomen wie Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung, kritisiere­n, dass der Erfolg mit wachsender Ungleichhe­it erkauft worden sei. Das stimmt nicht. „Die Ungleichhe­it in Deutschlan­d ist im vergangene­n Jahrzehnt im Großen und Ganzen unveränder­t geblieben“, schreiben die Wirtschaft­sweisen. Die Einkommens­verteilung ist auch gleicher als im Schnitt der Industriel­änder. Natürlich darf Deutschlan­d sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Die alternde Gesellscha­ft, die Eroberung aller Bereiche durch die Digitalisi­erung, die Integratio­n der Flüchtling­e bleiben große Herausford­erungen. Doch selbst die britische Wirtschaft­szeitung „The Economist“, die Deutschlan­d einst als „kranken Mann Europas“bedauerte, sprach schon mal von „Germany’s new Wirtschaft­swunder“.

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