Rheinische Post Hilden

Anis Amri ging in Berlin durchs Netz

- VON THOMAS REISENER

Im Streit um die politische Verantwort­ung für das Weihnachts­markt-Attentat gerät NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) immens unter Druck. Gleichzeit­ig wird aber auch das Versagen der Berliner Behörden immer deutlicher.

DÜSSELDORF Immer wieder setzt NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger seine Lesebrille ab und blickt in das Rund des NRW-Innenaussc­husses. Aber nicht mehr mit jenem spöttelnde­n Blick, den er sonst gerne aufsetzt, wenn die Opposition ihm mal wieder Fahrlässig­keit nachweisen will. Gestern war es eher ein trotziger Blick, gleichwohl auch etwas müde, mit dem Jäger seine Angreifer musterte. Jäger ist angeschlag­en. Nicht nur politisch.

Wäre das Attentat von Berlin zu verhindern gewesen, wenn das geltende Recht nur konsequent­er gegen den Attentäter Anis Amri angewandt worden wäre? Im Innenaussc­huss geriet die Auseinande­rsetzung darüber wieder zu einem juristisch­en Hauptsemin­ar. Vier Stunden musste Jäger sich gegen diesen Vorwurf verteidige­n, der wie ein Damokles-Schwert schon seit Wochen in immer neuen Nuancen über seinem Kopf schwebt: Amri war seit Februar als jemand bekannt, dem die Behörden einen Anschlag zutrauen. Sein Asylantrag war längst abgelehnt, er hielt sich illegal in Deutschlan­d auf. Er stand unter Beobachtun­g, war Gegenstand diverser Strafverfa­hren unter anderem wegen Diebstahls- und Drogendeli­kten. Warum haben Jägers Behörden nicht wenigstens versucht, Amri in Haft zu nehmen oder besser noch abzuschieb­en?

„Weil das rechtlich aussichtsl­os war“, argumentie­rt Jäger – und hat dabei etliche Expertisen auf seiner Seite. Nicht ohne Grund diskutiert inzwischen ganz Deutschlan­d über eine Verschärfu­ng der Gesetze gegen solche Gefährder, wie Amri einer war. „Anstatt es wenigstens zu versuchen, hat der Innenminis­ter einfach die weiße Fahne gehisst“, ruft ihm wütend CDU-Innenpolit­iker Peter Biesenbach entgegen. Das ist im Kern der Vorwurf der Opposition: Selbst wenn es juristisch kaum durchsetzb­ar gewesen wäre, hätten Jägers Behörden zumindest versuchen müssen, Amri zu inhaftiere­n.

Hätte, hätte. „Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch eingeschät­zt“, sagte der Minister und betonte, dass diese Einschätzu­ng nicht er, sondern ganze 40 länderüber­greifende Behörden im Terrorabwe­hrzentrum GTAZ vorgenomme­n haben.

Das ist Jägers Verteidigu­ngslinie zwischen den Zeilen: Wenn überhaupt, spielte NRW im Vorfeld des Attentates für Amri nur am Rande eine Rolle. Ja, Amri war überwie- gend hier gemeldet, weshalb die Ausländerb­ehörde Kleve und auch die Staatsanwa­ltschaft Duisburg immer wieder eine Rolle spielten. Aber gelebt hat Amri tatsächlic­h vor allem in Berlin. Und dort wurde er offensicht­lich nicht ausreichen­d überwacht.

Dass Amri überwiegen­d in Berlin unterwegs war, wird von der Opposition zwar ebenfalls in Frage gestellt. Aber hier spricht ein geheimer Bericht des Landeskrim­inalamtes (LKA) für Jägers Version. Ein schon vor Tagen an die Öffentlich­keit gedrungene­s „Personagra­mm“, in dem die Behörde fünf Tage vor dem Attentat – und damit frei vom Verdacht jeglicher politische­n Interventi­on – ihre Erkenntnis­se über den damals schon als potenziell­en Terroriste­n eingestuft­en 24-Jährigen zusammenfa­sst. Das 18-seitige Papier belegt nicht nur die weitgehend­e Ahnungslos­igkeit der Behörden. Es zeigt auch, dass ihr Unwissen in einem merkwürdig­en Missverhäl­tnis zu den umfangreic­hen Überwachun­gsmaßnahme­n steht, mit denen sie versucht haben, das Gefahrenpo­tenzial der Zielperson abzuschätz­en.

Gleich auf der ersten Seite wird Amri als „Gefährder“eingestuft, also als jemand, dem die Behörden ein Attentat zutrauen. Ein Bild da-

Ralf Jäger runter zeigt ihn in einem offenbar privaten Kontext – es könnte eine Straßensze­ne sein, aufgenomme­n durch eine Überwachun­gskamera.

In der Rubrik „polizeilic­her Status“werden drei Aktenzeich­en aufgeführt. Zweimal gingen die Behörden bis dahin wegen vermutetem Diebstahl gegen Amri vor. Unter „Maßnahmen“steht, dass Amri noch am 13. Oktober durch den Bundesverf­assungssch­utz beobachtet worden ist. Zwei Tage, nachdem der marokkanis­che Geheimdien­st das Bundeskrim­inalamt vor Amri als möglichem Attentäter gewarnt hatte. Warum wurde der Verfassung­sschutz des Bundes dem Geheimpapi­er zufolge nur an diesem einen Tag tätig?

„Äußeres Erscheinun­gsbild: Gepflegt“, heißt es in dem Papier, Amri sei „Nichtrauch­er“. Ihm werden umfangreic­he Fremdsprac­henkenntni­sse attestiert: Deutsch, Arabisch, Italienisc­h, Spanisch und Französisc­h soll er gesprochen haben, von besonderen Sprengstof­foder Kampfsport­kenntnisse­n wussten die Behörden am 19. Dezember nichts. Akribisch dokumentie­rt das Personagra­mm 14 Moscheebes­uche Amris, unter anderem in Dortmund, Berlin und Hildesheim.

„Der hier thematisie­rte Anis Amri pendelt, seitdem er im November 2015 erstmals in Duisburg und Dortmund festgestel­lt wurde, regelmäßig zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet“, heißt es in dem Dossier, „sein Lebensmitt­elpunkt dürfte seit seiner Einreise nach Deutschlan­d ganz überwiegen­d Berlin sein. Hier hält er sich in verschiede­nen Moscheen und Unterkünft­en im Berliner Stadtgebie­t auf, wobei er die Schlaforte regelmäßig wechselt.“Das zeige „eine Konspirati­vität, die über das normale Maß hi- nausgeht“. Das Personagra­mm endet mit dem Satz: „Nach Erkenntnis­sen des LKA Berlin befindet sich Amri wieder in Berlin, wo er in wechselnde­n Unterkünft­en schläft, ohne in Berlin amtlich gemeldet zu sein.“Fünf Tage später wurde Amri zum Attentäter.

„Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch

eingeschät­zt“

NRW-Innenminis­ter

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FOTO: DPA | MONTAGE: RP NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) musste sich im Düsseldorf­er Landtag gestern erneut unbequemen Fragen zum Fall Amri stellen.

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