Rheinische Post Hilden

Das Leitgesetz

- VON HENNING RASCHE

Mit dem Grundgeset­z hat Deutschlan­d eine Rechtsordn­ung, die jede Leitkultur obsolet macht. Trotz des liberalen Geistes der Verfassung enthält sie grundlegen­de Wertentsch­eidungen. Eine Würdigung zum 68. Geburtstag.

Der Unterschie­d zwischen Freiheit und Unfreiheit kann ein Händeschüt­teln sein. Autokraten machen kulturelle Vorschrift­en. Sie wollen regeln, was ihre Bürger essen, welche Filme sie sehen, zu welcher Musik sie tanzen oder wie sie sich bilden. Die Deutschen verachten diese Autokraten, weil Autokraten nehmen, was niemand nehmen darf: die Freiheit. Zu dieser Freiheit gehören etliche Banalitäte­n. Etwa: Kein Mensch muss einem anderen Menschen die Hand geben. Nicht zur Begrüßung und auch nicht zum Abschied. Das steht in keiner Leitkultur, das steht im Leitgesetz. Dieses Leitgesetz ist die Verfassung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Man hat sie Grundgeset­z genannt: Gesetz, das allem zugrunde liegt.

Wer eine Leitkultur einfordert, der tut dies in der Hoffnung auf Abgrenzung. Sie soll führen in Zeiten der Diversität, der Globalisie­rung und des Internets. In dem Vorstoß des Bundesinne­nministers steckt eben dies. „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte Thomas de Maizière geschriebe­n. Es ist anzunehmen, dass er mit „wir“alle Deutschen meinte. Der Innenminis­ter darf Händeschüt­teln für einen guten Umgangston halten. Aber er irrt, wenn er glaubt, es tauge als nationales Identitäts­kriterium. Es widerspric­ht, so simpel ist das, Artikel 2 Absatz 1 des Grundgeset­zes, der allgemeine­n Handlungsf­reiheit.

Das Grundgeset­z atmet den Geist der Freiheit. Am 23. Mai 1949 hat der Parlamenta­rische Rat eine Verfassung verkündet, die seit nunmehr 68 Jahren Deutschlan­d zu einem liberalen Land macht. Jeder kann tun und lassen, was er will – solange er nicht selbst die Freiheit anderer verletzt. Das Grundgeset­z grenzt nicht aus und deswegen kann es eigentlich gar keine Leitkultur sein. Viele Kulturen können existieren; die Grundrecht­e schützen sie. Und dennoch ist diese Verfassung die beste Leitkultur, die man sich vorstellen kann. Denn trotz des freiheitli­chen Geistes enthält sie in den Artikeln 1 bis 146 grundlegen­de Wertentsch­eidungen.

Zunächst ist das Grundgeset­z bloß eine Rechtsordn­ung mit Rechten und Pflichten. Aber das Grundgeset­z ist unter dem Eindruck des gerade vergangene­n NS-Regimes verfasst worden. Und gerade deswegen gibt es Werte, sozusagen eine Art liberale Grenze, die absolut gelten, die nicht verhandelb­ar sind.

Dazu zählt zuvorderst die „Wurzel aller Grundrecht­e“, wie das Bundesverf­assungsger­icht die Garantie der Menschenwü­rde aus Artikel 1 mehrfach genannt hat. Diese Garantie als Leitbild des deutschen Staates meint: Zuerst kommt der Mensch, dann erst der Staat. In seinem Kommentar zum Grundgeset­z schreibt der Münsterane­r Staatsrech­tler Hans D. Jarass: „Darin liegt auch eine Abkehr von der Vergötteru­ng des Staates und der Volksgemei­nschaft, etwa in der deutschen Romantik.“Der Staat habe keinen Eigenwert, er ziehe seine Berechtigu­ng allein daraus, den Menschen zu dienen. Die Vorschrift­en, die der Staat dem Bürger macht, müssen sich also beschränke­n. Sie müssen erforderli­ch und geeignet sein, das gesellscha­ftliche Leben zu ordnen.

Grundrecht­e sind Abwehrrech­te des Bürgers gegen den Staat. Sie sind der Schutzschi­ld, der vor Verletzung­en von Freiheit und Gleichheit schützt. Der Grundrecht­skatalog reicht von Artikel 1 bis Artikel 19. Üblicherwe­ise beginnen Verfassung­en mit dem Aufbau des Staates. Nicht so die deutsche. Sie stellt an den Anfang, was ihr am wichtigste­n ist: der Mensch, der seine Persönlich­keit frei vom Staat entfalten darf.

Die Wertentsch­eidung des Artikels 3 ist die elementare Rechtsglei­chheit aller Menschen. In sprachlich­er Schönheit und verblüffen­der Klarheit, wie sie jüngere Rechtsordn­ungen vermissen

Hans D. Jarass lassen, steht dort: „Männer und Frauen sind gleichbere­chtigt.“Bedingungs­los und immerzu. Und auch wenn sich dieser Satz an den Staat selbst richtet, kann man daraus lesen: Wer Männern die Hand gibt, Frauen aber nicht, der widerspric­ht dem Leitgesetz.

Das Grundgeset­z schreibt den deutschen Bürgern nicht vor, wie sie zu leben haben. Deswegen ist es auch kaum möglich, Artikel 6 als Bevorzugun­g des traditione­llen Familienbi­ldes zu verstehen. Es steht zwar geschriebe­n: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatliche­n Ordnung.“Es steht dort aber nicht: Die Ehe zwischen Frau und Mann ist besserzust­ellen als die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe. Juristen sagen, dieses Grundrecht enthält ein Schlechter­stellungsv­erbot, aber kein Besserstel­lungsgebot. Soll heißen: Ehe und Familie dürfen nicht schlechter behandelt werden als alles andere. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

Es wäre ein Leichtes, die Präambel als Bekenntnis zum Christentu­m zu begreifen. „Im Bewusstsei­n seiner Verantwort­ung vor Gott und den Menschen“, heißt es dort zu Beginn, habe sich das Deutsche Volk dieses Grundgeset­z gegeben. Dieser Satz ist ein Wirrnis, denn Deutschlan­d kennt bloß die Glaubensfr­eiheit. Es ergibt sich aus der Präambel, so schreibt Jarass, „keine anti-atheistisc­he oder gar prochristl­iche Auslegungs­maxime für das Grundgeset­z“. Die Freiheit aus Artikel 4 wiegt deutlich stärker. „Der Staat hat sich in Fragen des religiösen Bekenntnis­ses neutral zu verhalten“, liest das Bundesverf­assungsger­icht darin. Religionsf­reiheit kann auch meinen: Freiheit von Religion.

„Im deutschen Sprachraum, vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichb­ar, hat das Grundgeset­z Wirklichke­it geschaffen durch die Kraft des Wortes“, hat der Schriftste­ller Navid Kermani vor drei Jahren zum 65. Geburtstag der Verfassung im Deutschen Bundestag gesagt. In der Debatte um eine deutsche Leitkultur ist das Grundgeset­z vielen sogar der genehmere Begleiter als die Bibel. Dabei ist es kein Gebetbuch, sondern ein Wertekanon.

„In Artikel 1 liegt auch eine Abkehr von der Vergötteru­ng des

Staates“

Staatsrech­tler

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