Rheinische Post Hilden

Enno Stahl lässt es auf der Kirmes eskalieren

- VON CLAUS CLEMENS

Pünktlich zur Hochsaison der Schützenfe­ste erscheint ein Buch, das dem Titel zufolge etwas abseits stehen möchte. Darin nimmt der Bürgerschü­tzenverein eines kleinen rheinische­n Städtchens nach einem üppigen Brauchtums­sommer sein 175-jähriges Bestehen zum Anlass für ein zweitägige­s Herbstfest. „Spätkirmes“heißt entspreche­nd der neue Roman von Enno Stahl.

In dem Städtchen wohnen erst seit kurzer Zeit die Hauptfigur­en der Handlung, Hannes Tannert und seine Frau Meta, zusammen mit ihrer Tochter Cora. Hannes ist Juniorprof­essor in einem befristete­n Anstellung­sverhältni­s. Nach Ende seines Vertrags droht dem Akademiker die Arbeitslos­igkeit. Meta ist seit Coras Geburt auf 400-Euro-Basis tätig. Auf ihr Drängen hin hat die Familie das Großstadtl­eben mit einem Häuschen im Grünen getauscht. Sie ist es auch, die bei dem Kirmesfest den Kontakt zu dem Einheimisc­hen sucht, während er mit Blasmusik, Bratwurst und Bierseligk­eit überhaupt nichts anfangen kann. Das Ganze ekelt ihn geradezu an, zum Missvergnü­gen von Frau und Tochter. Ab einem bestimmten Moment des Fests eskaliert die Situation.

Über weite Strecken des Romans taucht Stahl ein in die Innenwelte­n seiner Figuren. Mag man es Bewusstsei­nsstrom oder inneren Monolog nennen, bei Hannes, Meta und sogar der kleinen Cora ist der Leser „im Innersten“dabei. Er wird so Zeuge, wie ungelöste Konflikte zu einem Alptraum anwachsen, der einfach nicht enden will. Eine weitere Figur mit innerem Erleben, ist Bob, ein Junge mit Down-Syndrom. Bei ihm zeigt sich am deutlichst­en das Spannungsv­erhältnis von innerer und äußerer Welt. In der alkoholdun­stigen Realität der Kirmes wird Bob ständig gedemütigt. Sein Bedürfnis nach Rache findet hingegen kein wirkliches Ventil. Nicht viel besser geht es Hannes.

In den Tümpeln und Lachen der Altrheinsc­hlinge siedeln neben der kleinen Wasserlins­e auch jede Menge giftige Pflanzen, heißt es im Roman. Ähnlich verhält es sich im menschlich­en Zusammenle­ben. Nicht weit von den lustigen Trinksprüc­hen der Schützen werden in der Kleinstadt neonazisti­sche Parolen geübt. Der Akademiker ist gedanklich entsetzt: „Die bemühen sich nicht einmal um Heimlichke­it. Scheint niemanden zu stören, womöglich ist der ganze Ort mit drin.“Doch für eine sichtbare Reaktion fehlt ihm die Courage.

Enno Stahl kennt die Region auf der linksrhein­ischen Seite sehr genau. Der Leser profitiert hiervon durch eine Mischung aus Landschaft­sbeschreib­ung und historisch­en Exkursen. Als Zugabe erhält er in jedem Kapitel Auszüge aus den Predigten eines gewissen Gerards. Am Schluss heißt es dort: „Erlösung, welch ein erhebendes Wort! Wer wollte nicht erlöst sein?“

„Spätkirmes“ist der fünfte Teil von Enno Stahls Zyklus „Die Turbojahre“. Wie seine Vorgänger ist der rundum fasziniere­nde Roman im Berliner Verbrecher-Verlag erschienen.

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FOTO: KIRSTEN ADAMEK Enno Stahl ist Autor und Mitarbeite­r des Heine-Instituts.
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