89-Jährige wurde als Letzte evakuiert
Die Stadt Wuppertal hat gestern Nachmittag ein Hochhaus evakuieren lassen, weil in der Fassade brennbares Material verbaut ist. 71 Bewohner mussten ihr Zuhause verlassen und hatten 20 Minuten, um das Nötigste einzupacken.
WUPPERTAL Das Hochhaus im Stadtteil Wuppertal Langerfeld ist mit rot-weißem Flatterband abgesperrt, Anton und Alicia T. (beide 56) stehen auf der Straße. Denn das Ehepaar musste wie 69 weitere Bewohner gestern Nachmittag das Zuhause verlassen. Die Stadt Wuppertal hat die Evakuierung veranlasst, weil in der Fassade ähnliche Materialien verbaut sind wie im Grenfell Tower in London. Bei der Brandkatastrophe kamen mindestens 79 Menschen ums Leben.
Anton und Alicia T. wohnen in der fünften Etage im Wohnquartier Hilgershöhe. Sie ist gerade zur Arbeit gegangen, und nur ihr Mann ist zu Hause, als um 15.45 Uhr Mitarbeiter des Ordnungsamtes an der Wohnung des Ehepaares klingeln. Sie erklären, die Bewohner hätten 20 Minuten Zeit zu packen. „Das war’s – mehr haben die uns nicht gesagt“, sagen die beiden. Alicia T. kehrt sofort von ihrer Arbeit nach Hause zurück. Das Paar sucht schnell Wertsachen und Kleidung zusammen, die Tochter nimmt sie bei sich auf. Wann die beiden in ihr Zuhause zurückkehren können, wissen sie nicht. Heute dürfen sie wohl noch einmal kurz in die Wohnung, um weitere Sachen zu holen.
Die Entscheidung zur Evakuierung sei bereits am Vormittag getroffen worden, sagt Jochen Braun, Ressortleiter der Stadt Wuppertal für Bauen und Wohnen. Das elfstöckige Gebäude, Baujahr Ende der 1960er Jahre, hat 86 Wohnungen. Da auch ein Rettungsweg an der Fassade entlang führt, sieht die Stadt Gefahr im Verzug und reagiert unverzüglich. Die Außenverkleidung besteht aus Kunststoff und einer Holzkonstruktion, die noch mit Holzwolle gefüllt ist. Wenn das Material entfernt ist, könnte das Haus wieder bezogen werden.
Die Polizei hat das Gebäude gestern bereits früh abgesperrt, Busse sind vorgefahren. Nach dem Londoner Hochhausbrand habe man das Brandrisiko neu bewertet, erklärt die Stadt. Zudem gebe es enge Flure und kurze Balkone, erläutert Wuppertals Baudezernent Frank Meyer, und eine Brandmeldeanlage fehle in dem Haus. Die Fluchtwege könnten im Fall eines Feuers schnell durch Rauch blockiert sein.
Die Stadt Wuppertal wird nun allein 70 weitere Gebäude überprüfen. Man gehe aber nicht davon aus, dass sie ebenfalls evakuiert werden müssen. „Wir wissen bislang von keinem anderen Fall“, sagt eine Sprecherin des NRW-Bauministeriums. Experten gehen allerdings davon aus, dass bei umfangreichen Überprüfungen mehrere Hochhäuser auch auffallen werden. In Großbritannien sind bei stichprobenartigen Brandschutztests bereits alle 95 Gebäude durchgefallen.
Ein Großteil der Wuppertaler Evakuierten kommt laut Braun bei ihren Familien unter. Alle anderen werden zur Ausländerbehörde der Stadt gebracht, die für Flüchtlinge möblierte Wohnungen bereithält. Die Bewohner fragen sich, wann sie in ihre Wohnungen zurückkehren dürfen. Die Renovierung wird Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Manche zweifeln auch daran, ob dafür überhaupt das Geld in die Hand genommen wird. Das Gebäude gehört einer Immobilienfirma mit Sitz in Berlin. Der Eigentümer des Hauses sei nicht bereit, an den Maßnahmen mitzuwirken, erklärt die Stadt. Die Wohnungen würden kontrolliert und versiegelt. Ein Wachdienst werde aufpassen, dass sie nicht geplündert werden. Jeder Bewohner dürfe nur einen Koffer mitnehmen, alles andere müsse im Haus bleiben.
Gegen 19 Uhr verlässt die letzte und älteste Bewohnerin das Gebäude. Johanna Klosa ist 89 Jahre alt und lebt seit 47 Jahren dort. Ein Polizist hilft ihr die Treppe hinunter, Enkelin Claudia Finkenbusch begleitet sie. Als es an der Wohnungstür schellte, konnte Klosa nicht selbst öffnen: Die Seniorin hat Pflegestufe 4 und schafft den Weg zur Tür nicht mehr. Ihre Enkelin half dabei, dass die alte Dame ihre Wohnung verlässt. „Meine Oma ist sehr verwirrt und hat bitterlich geweint“, sagt Finkenbusch, die nicht versteht, warum den Leuten nicht mehr Zeit gelassen wurde, ihre Sachen einzupacken. Viele ältere Menschen würden in dem Haus leben, die Pflegeunterlagen ihrer Oma haben sie zum Beispiel gar nicht mitgenommen.
Wo die alte Dame nun unterkommt, wird geklärt: Die Wohnungen der Stadt sind nicht für sie geeignet, ihre Familie wird sie aufnehmen, auch wenn sie nicht auf die Bedürfnisse der 89-Jährigen eingestellt ist. „Meine Oma hat das Haus in letzter Zeit gar nicht mehr verlassen“, sagt Claudia Finkenbusch. „Und ihre Sorge ist groß, dass sie nicht mehr zurückkehren wird.“