Zeuge soll Rolle der Behörden bei Amri-Attentat klären
Ein Untersuchungsausschuss soll feststellen, ob sich ein Fall wie der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt wiederholen könnte.
BERLIN Der erste Satz des ersten Zeugen im neuen Untersuchungsausschuss des Bundestags zu den Behördenpannen beim Weihnachtsmarktattentat von 2016 könnte widersprüchlicher nicht sein. „Alles gut“, sagt der Gießener Strafrechtsprofessor Bernhard Kretschmer. Er meint damit, dass er zum Prozedere keine Fragen mehr hat. Doch beim Fall selbst ist nichts gut. Zwölf Menschen sind tot, Millionen verunsichert, und wie der Attentäter Anis Amri durch die Sicherheitsarchitektur der Republik spa- zieren konnte, lässt bereits zum Start der neuen Aufklärung Fassungslosigkeit aufkommen.
Kretschmer war von der damaligen NRW-Regierungschefin Hannelore Kraft als „unabhängiger Sonderermittler“installiert worden, und so fragen die Bundestagsabgeordneten erst einmal nach seiner Kompetenz und seiner Unabhängigkeit, die ihn befähigte, eine solche möglicherweise wahlentscheidende Untersuchung zu übernehmen. Tatsächlich nimmt Kretschmer schon sehr früh das Wort „Reinwaschen“in den Mund. Er bezieht es allerdings auf den Generalbun- desanwalt. Der hätte nach Kretschmers Überzeugung den Fall Amri schon im Frühjahr 2016 übernehmen müssen, und dann wären alle Fäden bei ihm zusammengelaufen – und das Attentat nicht passiert. So wäre NRW aus der Sache raus.
Doch die Abgeordneten hebeln diese Darstellung schnell aus der Verankerung. Warum NRW den Gefährder Amri nicht abschob, warum das Land stattdessen auf ein zügiges Asylverfahren setzte, dann aber Wochen und Monate für den Papierkram brauchte? Das sind zwei von vielen Fragen. Vor allem liegt schon bald der erste Vertuschungsver- dacht auf dem Untersuchungstisch. Da will NRW im Terrorabwehrzentrum auf eine höhere Gefährdungseinstufung Amris gedrungen, sich aber „leider nicht durchgesetzt“haben. Doch im Protokoll der Sitzung ist nur von einvernehmlicher Einschätzung ohne eine einzige Wortmeldung die Rede. Eine von beiden Darstellungen ist somit gelogen.
Viele der eklatanten Mängel von 2016 sind inzwischen abgestellt. So würde ein neuer Amri heute keine Chancen mehr haben, mit 14 verschiedenen Identitäten die Behörden zu narren, weil die Erkennungsdaten zentral verglichen werden. Doch ist ausgeschlossen, dass gegen einen Gefährder phasenweise nicht vorgegangen wird, weil ein Strafbefehl nicht zugestellt werden kann?
Und ist die Praxis inzwischen abgestellt, dass bei mobilen potenziellen Attentätern die einzelnen betroffenen Bundesländer die Zuständigkeiten munter hin- und herschieben? Amri wurde zwischen Berlin und NRW wiederholt einund ausgestuft und in dem Hin und Her auch mal vier Tage überhaupt nicht mehr als Gefährder geführt. Und schließlich: Ist der Informationsfluss wirklich besser geworden? Zu Beginn der Sitzung grätscht Kretschmer noch heftig dazwischen, als die Abgeordneten darüber spekulieren, Amri habe seine Papiere vernichtet. Darauf gebe es keinerlei Hinweise, betont er, der eigentlich alle Details kennen sollte. Dann wird er jedoch mit der Mitschrift eines Telefonats vom Sommer 2016 konfrontiert, in dem Amri über seinen wegzuwerfenden Reisepass sprach. Es bleiben prekäre Fragen, die auch heute noch wichtig für die Sicherheit sind. Vermutlich wird der Ausschuss Jahre brauchen, um sie zu klären. Erst einmal beklagt die Opposition den Ausschuss: Die Akteneinsicht reicht ihr nicht.