Zum ersten Mal seit 45 Jahren
Ralph Brinkhaus gelingt eine Sensation. Volker Kauder wird als Unionsfraktionschef im Bundestag abgewählt – seit fast einem halben Jahrhundert hatte es keine Kampfkandidatur mehr gegeben. Der Wandel der Merkel-Union hat begonnen.
BERLIN Um 15.06 Uhr schwingt Volker Kauder die Glocke. Er weiß da noch nicht, dass er zum letzten Mal in der vierten Etage des Reichstagsgebäudes die Sitzung der Unionsfraktion einläutet. Ungezählte Male hat der inzwischen 69-Jährige die CDU- und CSU-Abgeordneten so zusammengerufen. Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen. Denn verliert Kauder, verliert auch Merkel.
Noch hält das keiner so recht für möglich. Aber es gibt ein Menetekel aus Kauders Sicht. Der Parlamentskreis Mittelstand hat sich vor der Sitzung getroffen und die Lage in den eigenen Reihen sondiert. Unter den Redebeiträgen gab es fast nur Befürworter von Ralph Brinkhaus, Kauders Stellvertreter, der seinen Vorsitzenden herausfordert. Und die Mittelständler stellen mit 130 Mitgliedern mehr als jeden zweiten Abgeordneten in der Fraktion. Manchem wird mulmig bei dem Gedanken, was jetzt passieren kann.
So spannend war eine Wahl des Unionsfraktionsvorsitzenden zuletzt 1973. Auch damals gab es klare Erwartungen – und mit Karl Carstens einen Überraschungssieger, der die Unionsfraktion in der damaligen Opposition neu aufstellen sollte.
Vor einem Jahr hatte Kauder schon mit einem Ergebnis von 77 Prozent einen schweren Dämpfer erlitten, auch stellvertretend für den Unmut über Merkel wegen der hohen Verluste bei der Bundestagswahl. Nun bietet sich der etwas steif wirkende westfälische Finanzexperte Brinkhaus an. Er will es anders machen als Kauder, der Merkel immer die Mehrheiten beschafft hat, auch wenn es noch so weh tat – oft genug ihm selbst. Bis zur Selbstverleugnung habe er Beschlüsse durchgesetzt, um Merkel fürs Regieren den Rücken freizuhalten, heißt es in der Fraktion. Merkel hat sich dafür immer wieder für ihn entschieden. Es ist zur Tradition geworden, dass sie und CSU-Chef Horst Seehofer ihn gemeinsam vor jeder Wahl erneut zum Fraktionsvorsitzenden vorgeschlagen haben.
So auch diesmal. Merkel ergreift um 15.40 Uhr das Wort und spricht sich für ihren treuen Wegbegleiter aus, den sie 2005 zu ihrem eigenen Nachfolger an der Fraktionsspitze gemacht hat. Damals waren sie keineswegs enge Vertraute. Aber die ostdeutsche Pfarrerstochter vertraute auf ihren Instinkt, dass der tiefgläubige Protestant aus dem Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen der Richtige auf dieser Position sein würde. In den vergangenen 13 Jahren wurde daraus fast so etwas wie Freundschaft. Jedenfalls haben sie nie nach außen sichtbar gegeneinander gearbeitet.
Merkel hat große Sorge, dass sie ohne Kauder an der Stelle die Fäden nicht in der Hand behalten kann und weder innen- noch außenpolitisch mit der Bundestagsfraktion eine sichere Bank für ihre Entscheidungen hat. Auch Seehofer sagt über Kauder: „Man kann sich auf ihn verlassen.“Kauder habe nie getrickst.
Man glaubt Seehofer, weil das auch schon der 2012 verstorbene hochangesehene frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck gesagt hat. Kauder und Struck – sie waren echte Freunde. Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt spricht sich öffentlich für Kauder aus. Doch es kommen Zweifel auf, ob Kauder es wirklich schaffen wird, weil vor allem in der CSU in Brinkhaus ein Ventil gesehen wird, Merkel eine Abreibung zu verpassen.
Vor allem fragen sich viele, in welcher Tagesform die Kandidaten sind. Bald wissen sie es: Brinkhaus wirkt wieder dynamischer, Kauder statischer. Der Herausforderer hält eine weitere „Aufbruch-Rede“. Er appelliert an das Wir in der Fraktion und an Mut, Vertrauen und Zuversicht. Aufgabe eines Fraktionsvorsitzenden ist für ihn eine gute Zusammenarbeit mit der Regierung – aber auch, die Belange der Fraktion zu vertreten. Kauder sagt, natürlich müsse es immer auch um Erneuerung gehen, aber Stabilität und Kontinuität gehörten auch dazu.
Es ist die Stelle, an der sich hinterher festmachen lässt, dass sich Merkel, Seehofer und Kauder bei Stimmen Stimmen ihren Beiträgen irren: Sie dachten, sie würden Öl auf die Wogen kippen und sie damit glätten können. Dabei lodert in der Fraktion längst ein Feuer, das sie mit ihren Mahnungen kräftig entzünden helfen.
Dobrindt hat zuvor versucht, die Schuld den Sozialdemokraten zuzuschieben. Die SPD habe die Gabe, interne Probleme zum Problem der gesamten Koalition zu machen. Er will erkennbar ablenken, indem er den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert den „Chef der Zipfelmützen in der SPD“nennt.
Der Parlamentarische Unionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer (CDU) lässt am Vormittag durchblicken, dass er seinen Job eigentlich nur unter Kauder machen möchte: „Ich habe vertrauensvoll und erfolgreich mit Kauder zusammengearbeitet und möchte das fortsetzen.“Und er hoffe, dass nun der Fokus auf die Sacharbeit gelegt werden könne. In seinem Wahlkreis Harburg in Niedersachsen würden die Menschen die Krisen und manche Entscheidungen der Bundesregierung nicht mehr verstehen. Dieses Zeichen will auch die Mehrheit in der Fraktion setzen. Aber anders, als Grosse-Brömer erwartet. Um 16.16 Uhr geht es an die Wahlurnen. „Die Wahrheit liegt in der Urne“, hat Dobrindt mit Blick auf die Bayernwahl prophezeit. Es ist an diesem Dienstag eine bittere Wahrheit für die Kanzlerin. Um 16.46 Uhr steht das Ergebnis fest. Es ist ein unerwarteter Sieg: 125 zu 112 Stimmen. Und es ist ein großer Sieg – für Ralph Brinkhaus. Er wirkt im ersten Augenblick, als könne er es am allerwenigsten fassen. Und er ist erst einmal sprachlos. Dann nimmt er die Glückwünsche entgegen. Und er steht natürlich mit auf, als die Fraktion mit langem Beifall Volker Kauder für seinen 13 Jahre währenden Einsatz dankt. Die Landesgruppen verlangen eine Unterbrechung der Sitzung. Die unerwartete Abstimmung hat die Gewichte verschoben. Der Fraktionsvorstand müsse beraten, wie es weitergeht. Doch die Pause ist nur kurz, dann ist klar: Es wird nun „durchgewählt“. Nur nicht der Posten von Grosse-Brömer. Der Manager des Fraktionsgeschehens muss besonders das Vertrauen des Fraktionschefs haben. Und der ist nun ein anderer. Als Brinkhaus um 17.08 Uhr vor die Presse tritt, ist er zunächst aschfahl. Dann macht er es kurz und knapp: „Ich freue mich riesig über das Wahlergebnis. Jetzt geht es darum, ganz schnell wieder an die Arbeit zu kommen.“
Schnell wechselt er zurück in den Sitzungssaal, um an den Wahlen der Stellvertreter teilzunehmen. Stephan Harbarth, wie Kauder aus Baden-Württemberg, bekommt 98,9 Prozent. Die NRW-CDU-Politiker Carsten Linnemann (83,1 Prozent) und Hermann Gröhe (91,5) werden auch bestätigt. Ein Vize-Posten bleibt noch frei: der bisherige von Brinkhaus. Darüber muss später entschieden werden.
Ein CSU-Politiker raunt beim Rausgehen: „Die Fraktion will endlich wieder aus dem Tief heraus, das ist die Botschaft.“Merkel sieht eine andere. Sie verabredet sich bereits für den nächsten Tag mit Brinkhaus. Sie will die Dinge wieder in den Griff bekommen. Doch am Rande der Fraktion laufen bereits Wetten, dass beim CDU-Parteitag im Dezember der nächste Schritt folgt: dass Angela Merkel nämlich nach ihrem vertrauten Fraktionsvorsitzenden auch ihren eigenen Parteivorsitz verliert.