Russlands Männer fühlen sich betrogen
Für viele Russen bedeutet die angekündigte Erhöhung des Renteneintrittsalters, dass sie wohl nie eine Pension erhalten werden.
MOSKAU Sergej Iwanowitsch trägt einen Blaumann, über seiner Schulter schwingt eine lange Metallstange. Der Elektriker ist hochgewachsen und von kräftiger Statur. Der 59-Jährige arbeitet als Angestellter bei einem Moskauer Gebäudeservice. Er sei ein Glückspilz, sagt er. Nächste Woche feiert er seinen 60. Geburtstag und wird seinen Beruf am alten Arbeitsplatz weiter ausüben. Gleichzeitig wird er jedoch Rente beziehen und Altersvergünstigungen in Anspruch nehmen können. Kein Einzelfall: Jeder fünfte der rund 46 Millionen russischen Rentner arbeitete bislang nach dem Ende der regulären Arbeitszeit weiter.
Sergej Iwanowitsch hatte noch Glück, denn Russlands höchst umstrittene Rentenreform tritt erst im Januar 2019 in Kraft. Schrittweise soll danach das Eintrittsalter in den Ruhestand für Männer von 60 auf 65 Jahre und für Frauen von 55 auf 63 Jahre angehoben werden. Männer des Jahrgangs 1963 werden die ersten sein, die 2028 erst mit 65 Jahren in Rente gehen dürfen.
„Mich hat die Reform nicht überrascht. Seit Jahren wurde darüber geredet,“sagt Iwanowitsch. Erstaunt sei er jedoch, mit welcher Eile das Unternehmen jetzt angegangen werde. Dem Staat fehle Geld, mit der Reform wolle man Ausgaben einsparen, meint er. „Pro Rentner müssten das über die Jahre 250.000 Rubel sein, die der Kreml einkassiert“, rechnet er vor.
Die Reform ist der größte Eingriff seit den 1930er Jahren. Die angehenden Rentner sind entsprechend erbost. Fast 90 Prozent lehnen die Anhebung des Rentenalters ab. Die meisten empfinden sie als einen Vertragsbruch des Kremls. In der frühen Rente sahen sie ein Grundrecht, das nie angetastet wurde. Mit dem bescheidenen Ruhegeld waren sie zwar nie zufrieden, die Möglichkeit in den ersten Jahren des Rentnerdaseins dazuzuverdienen, ließ sie jedoch stillhalten. Jetzt fühlen sie sich hintergangen, weil dieser stillschweigende Deal nicht mehr gelten soll.
Die Lebenserwartung habe ein Rekordhoch erreicht, frohlockten staatliche Medien im vergangenen Jahr. Eine längere Lebenszeit sollte aus Sicht der Regierung die Erhöhung des Renteneintrittsalters wohl psychologisch ein wenig abfedern. Das Kalkül ging jedoch nicht auf. Vor allem die russischen Männer fürchten, um ihr Ruhegeld geprellt zu werden. Laut der Statistikbehörde „Rosstat“stieg die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland auf 72,5 Jahre (Deutschland: 80,7). Freilich, während Frauen mit einer Lebensdauer von 77 Jahren rechnen können (Deutschland: 83,2), liegt sie bei Männern nur bei rund 67 Jahren (Deutschland: 78,3). In kaum einem anderen Land gibt es ein so deutliches Gefälle zwischen den Geschlechtern. Im Weltvergleich steht Russland daher auch sehr schlecht da. Alle europäischen Staaten haben Russland abgehängt, selbst die die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken überholten es. Bei der durchschnittlichen Lebenserwartung rangieren selbst Tadschikistan und Nordkorea noch vor Russland.
Dabei sind die Unterschiede erheblich: Die Republiken im Nordkaukasus rühmen sich mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von 75 und die Hauptstadt Moskau mit 77 Jahren besonders rüstiger Bürger. Die Bewohner der südsibirischen Republik Tuwa müssen dagegen mit einem Schnitt von 64 Jahren vorlieb nehmen. In einigen Regionen des Fernen Ostens erreichen die meisten Männer nicht einmal das derzeitige frühe Renteneintrittsalter von 60 Jahren.
In Moskau ist es wohl vor allem die bessere medizinische Versorgung, die eine Rolle spielt. Sergej Iwanowitsch geht zweimal jährlich zu seiner „Herzdame“, so nennt er die Kardiologin scherzhaft, die in einer Klinik für Angestellte der Präsidialverwaltung praktiziert. Iwanowitschs Frau ist im Präsidialamt beschäftigt und darf den Gatten dort kostenlos mitversorgen lassen. Die Polikliniken, die für die Moskauer zuständig sind, hätten auch gute Ärzte. Es fehle ihnen aber Zeit für die Patienten, sagt er.
Die staatliche Gesundheitsversorgung war schon in der Sowjetunion unterfinanziert. Bis in die 1960er Jahre gelang es zwar wie im Westen, die Sterblichkeit bei Infektionskrankheiten abzubauen. Bei Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnte Russland jedoch nicht mithalten. Nicht jeder Bürger kann sich heute teure Privatkliniken leisten. Schon außerhalb Moskaus wird die Versorgung mit Technik und Medikamenten schlechter. Seit 2002 ließ der Staat die Hälfte aller Krankenhäuser schließen.
Und nach wie vor gehört der Alkohol zu den häufigsten Sterbeursachen. Fast 40 Prozent aller Todesfälle im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 54 Jahren hängen mit dem Alkoholkonsum zusammen. Um rund 20 Jahre verkürzt er das Leben der Männer. Obwohl der Konsum um fast ein Drittel auf 13 Liter reinen Alkohols pro Jahr gesunken sei, wie Russlands Chefdemograph Anatoli Wischnewski feststellte. Das ändert aber nichts am grundsätzlichen Befund: Russlands Männer treiben mit der Gesundheit Raubbau und suchen einen Arzt erst auf, wenn es fast schon zu spät ist.
Auch äußere Faktoren für einen frühen Tod sind häufig alkoholbedingt: Verkehrsunfälle, Gewalt, Morde und Selbstmorde stehen in der russischen Statistik obenan. In Erhebungen anderer europäischer Staaten tauchen sie nur noch am Rande auf. Auch Risikobereitschaft und Leichtsinnigkeit der Männer im Verkehr und am Arbeitsplatz erklären, warum sie die Welt meist viel früher verlassen als Frauen.
Vor Jahren schon legte Moskau im Auftrag des damaligen Premierministers Wladimir Putin ein „Anti-Alkohol-Konzept 2020“auf. Dies regulierte Bezug und Verkaufszeiten für Alkoholika und ordnete Mindestpreise an. Doch sein Nachfolger, Premierminister Dmitri Medwedjew, regte nun an, den Verkauf von Bier und Wein an Tankstellen wieder zu erlauben. Die Meinungen darüber, was er damit beabsichtigt, gehen auseinander. Soll das Staatssäckel über zusätzliche Alkoholsteuern gefüllt werden, oder soll dem wachsenden Missbrauch von billigem Wodka-Ersatz vorgebeugt werden? So starben im vergangenen Jahr in Sibirien 70 Menschen nach der Einnahme von Badezusatz. Der mit Methanol versetzte Stoff war in einem Automaten rund um die Uhr erhältlich.
Kremlchef Putin bleibt unterdessen eisern auf Kurs. So ordnete er an, die Lebenserwartung der russischen Bürger sei bis zum Ende seiner Amtszeit 2024 auf 78 Jahre hochzuschrauben. Dagegen hätte auch Sergej Iwanowitsch nichts einzuwenden.