Rheinische Post Hilden

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ich ging vor seinem Ställchen auf die Knie mit meinem Pflaster und meinem verschmier­ten Gesicht, und Dirk sagte: „Aua Popf.“Schob seine Ärmchen durch die Stäbe und versuchte, mich zu streicheln. „Amie aua Popf.“

Dirk konnte sprechen.

Guste kam dann auch.

An einem Sonntag, zusammen mit Onkel Karl, dem kleinen Sägewerkbe­sitzer, aber sie blieben nur zum Kaffeetrin­ken.

Mutter hatte eine Biskuitrol­le gebacken mit den ersten Erdbeeren aus unserem Garten.

Ich wollte mit Guste über die Beatles reden und über Erich Kästner, aber alles war anders.

Guste war anders.

Vater setzte sich mit an den Kaffeetisc­h, und Onkel Karl tat so, als wäre nichts.

Sprach mit Vater über unser halbfertig­es Haus im Bergischen und gab ihm die Adresse eines guten Maklers, damit der Rohbau endlich verkauft wurde, „damit es endlich vorangeht bei euch“. Und Vater sollte sich auch hier schon mal nach einem neuen Haus für uns umsehen, denn „es kann ja manchmal rubbeldiek­atz gehen“.

Guste tat nicht so, als wäre nichts. Sie aß ihren Erdbeerkuc­hen auf und packte dann Vaters Arm. „Du zeigst mir jetzt mal deine Spargelbee­te, Stefan.“

Vater stand sofort auf und ging mit ihr nach draußen.

Und als Guste und Onkel Karl abfuhren, winkte er ihnen nach.

Jetzt sprach Mutter wieder mit Vater.

Fragte ihn normale Sachen. Was er essen wollte, ob er gern ein frisches Hemd hätte und solche Dinge. Doch Vater war immer noch taub. Da fing Mutter auf einmal an zu quengeln: „Stefan, sei doch wieder gut. Denk doch an die Kinder.“

Aber Vater tat weiter so, als wäre sie gar nicht da.

Mutter wollte mich plötzlich wieder jeden Abend ins Bett bringen. Wenn Vater schon drinlag, stand sie neben mir im Badezimmer, wenn ich mich wusch. Mit dicken Tränen stand sie da und wollte mich umarmen.

„Wenn ich dich nicht hätte, Kind, wäre ich schon längst tot.“

Mit mir wollte Vater jetzt wieder sprechen.

„Sag Mutti, ich brauche morgen keinen Henkelmann, wir kriegen auf dem Außenkomma­ndo Essen.“

„Pit Lehmkuhl will wissen, wie viel Hühnerfutt­er er mitbringen soll.“

Manchmal stand Mutter direkt daneben, dann rannte ich weg. Irgendwohi­n.

Und abends, wenn Vater und ich uns gemeinsam zum Schlafen hinlegten, erzählte er von früher, als er noch klein war, obwohl ich nicht wie sonst, wenn ich nicht einschlafe­n konnte, darum gebettelt hatte.

„Ich hatte noch ein Schwesterc­hen, Hermine, unsere Jüngste, die Nummer dreizehn. Hab ich dir das schon mal erzählt?“

Ich schüttelte leise den Kopf. „Die ist mit zwei Jahren gestorben, einfach morgens nicht mehr wach geworden. Keiner wusste, warum.“

Das war schrecklic­h, und ich kriegte sofort einen Kloß im Hals.

„Aber so war das damals. In der Zeit sind viele Kinder gestorben. Wir hatten ja noch Glück, weil wir meist genug zu essen hatten. Wenn unser Vater nicht bei der Bahn gewesen wäre . . . Bei so viel Kindern . . . wer weiß . . .“

Er drehte sich auf den Rücken. „Obwohl man sich ja doch wundert, dass wir im Winter nicht alle erfroren sind . . .“

Ich wurde ganz zappelig, weil ich neugierig war, aber ich sagte nichts.

„Wir hatten ja nur zwei Kammern, deshalb mussten wir Kinder, wenn wir groß genug waren, auf dem Söller schlafen. Und im Winter, ich kann dir sagen! Da pfiff der Wind durch die Dachziegel, und der Schnee wurde reingeblas­en.

Drei Plümmos für uns alle, mehr waren nicht da. Eins für die Eltern und den Säugling, eins für die Kleinsten, und das dritte mussten wir oben auf dem Söller uns teilen. Als wir größer wurden, haben wir uns deswegen die halbe Nacht gezankt.

Irgendwann kriegten wir noch ein Plümmo geschenkt, aber das war nur für die Mädchen, dass sie sich den Unterleib nicht verkühlten. Wir Jungs haben uns weiter verhauen.“„Warst du der älteste?“

Ich war doch zu neugierig geworden.

„Nein.“Ich konnte hören, dass er schmunzelt­e. „Ich war mehr so in der Mitte . . . Und ich war eine ganz schöne Schissbux. Hatte immer Angst vor den Raben.“

„Den Raben?“Ich wusste nicht, was er meinte.

„Ja, bei uns draußen gab es viele Raben, sogar Kolkraben, die großen mit den dicken Schnäbeln. Und unser Dach war ja nie ganz dicht, irgendwo war immer ein Loch. Ich hatte immer Angst, die Raben würden nachts reinkommen und mir die Augen aushacken.“

Mich überlief ein Gruselscha­uer – das spürte er wohl.

„Ist ja nie passiert.“Er drehte sich wieder auf die Seite und zog sich die Decke übers Ohr.

Ich wartete auf sein „Schlaf jetzt“, aber da zog er die Decke wieder herunter.

„Hab ich dir schon mal erzählt, dass ich einmal in unserer Hundehütte geschlafen habe?“

„Ihr hattet einen Hund?“

„Einen Spitz, ja, als Wachhund, draußen an der Kette.“

„Wie hieß der?“

„Der hatte keinen Namen“, antwortete er, als wäre das normal, aber bevor ich etwas sagen konnte, sprach er schon weiter. „Jedenfalls bin ich eines Tages in seine Hütte gekrochen. Erst haben die mich gar nicht vermisst, aber dann kam es meinem Bruder Wim komisch vor, dass der Hund draußen im Regen saß und jankerte. Der konnte ja nicht in seine Hütte. Und da haben sie mich dann gefunden. Ich hatte tief und fest geschlafen.“

„Die haben dich nicht vermisst?“Ich konnte es nicht fassen.

„Schlaf jetzt.“

Am nächsten Abend erzählte er mir, dass er als kleiner Junge klettern konnte „wie ein Äffchen“, aber das wusste ich ja schon.

Dann fragte er: „Und was hast du heute gemacht? War’s schön in der Schule?“

Mir wurde komisch, das hatte er noch nie gefragt.

„Und wie hat Mutti sich die Zeit vertrieben?“

Die Zeit vertrieben?

„War Besuch da?“

Besuch?

„Fräulein Maslow hat Eier geholt.“„Und sonst? Onkel Gembler vielleicht?“

(Fortsetzun­g folgt)

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