778 Kilometer Deutschland
Die Bundesstraße Eins verbindet seit Ewigkeiten Dörfer und Städte. Hält die Menschen noch etwas anderes zusammen? Auf Durchreise im deutschen Herbst 2018.
Fünfzig Meter bis zum Puff, steht in Rot auf der Wand. Aber da ist kein Puff, da ist Deutschland. Dieses Land beginnt plötzlich, aber trostlos. Es ist ein Montag Ende Oktober, Herbst. Dunkle, kalte Wolken hängen oben, unten grauer Asphalt. 778 Kilometer grauer Asphalt.
Aachen-Düsseldorf
An den Bäumen im Aachener Vaalserquartier leuchten die Blätter weinrot. Sie werden richtig dunkel, bevor sie verblassen und sich fallen lassen. Die Menschen tragen Handschuhe und Schals, als könnte es nicht kälter werden. Dabei sind es sieben Grad. Unter den Füßen raschelt das Laub, die Eicheln zerbrechen.
Der Motor des silbernen Kombis ist nicht ganz warm, da läutet eine Frau in Berlin den Herbst ein. Ihre Blätter sind hellgelb, kurz vor dem Fall. Deswegen tritt sie nach achtzehn Jahren zurück. „Was heut’ noch glüht, ist bald versunken“, schreibt Hermann Hesse. Die Buslinie 35 fährt in die Entengasse, die Fußgänger gehen weiter.
Es ist kompliziert. Der Nationalismus ist zurück, die Gesellschaft gespalten, die Republik nervös. Stimmt das?
Die Bundesstraße eins ist die erste Straße im Staat. Vor ihr gab es keine, schon gar keine längere. Vor mehr als 2000 Jahren wurde erstmals auf dieser Route Handel betrieben. Die längste Version der B1-Vorgänger reichte von Brügge bis Nowgorod, die berühmteste von Aachen bis Königsberg. Heute führt sie von Aachen ganz im Westen nach Küstrin ganz im Osten.
Die Bundesstraße eins verbindet Dörfer, Tankstellen, Wälder, Haltestellen und Städte. Und die Menschen? Hält sie im Herbst 2018 mehr zusammen als eine Straße?
778 Kilometer in elf Tagen. Reise nach Deutschland.
Durch Aachen windet sich die B1 wie ein Aal. Am Straßenrand verschwinden Kneipen und Grabsteingeschäfte. Bis Neuss kommt die Bundesstraße als Bundesautobahn daher. Vorbei an Jüchen, Garzweiler, dem Hambacher Forst, an Grevenbroich, direkt ins Industriegebiet.
Vor einem Möbelhaus steht eine Holzhütte, aus der eine Frau Bratwurst und Pommes verkaufen könnte, wenn jemand welche haben wollte. Das gibt es eigentlich nur in Freizeitparks, aber Möbelhäuser sind ja so etwas wie Freizeitparks für Spießer.
Über die Josef-Kardinal-Frings-Brücke Einfahrt in die Landeshauptstadt Düsseldorf. Mit 70 km/h am Medienhafen vorbei, unter dem Stadttor durch, zum Rheinufer.
Es ist kalt und nass, an der längsten Theke der Welt ist niemand. Die Menschen sitzen in tiefen Sesseln in verqualmten Shishabars, auf knüppelharten Holzstühlen in Restaurants, die mit Sparpreisen werben, oder an engen Tischen in Hausbrauereien. Das Angebot reicht von Froschkotze bis Schweinebrötchen. Es mangelt nicht an Publikum, aber an einer Theke.
Im Innern sitzen Pärchen und solche, die es werden wollen. Frauen, die sich enganliegend kleiden, Männer, die sich die Haare gegelt haben. Manche reden, andere schweigen. Hin und wieder schlürft ein Strohhalm. Etwas abseits trinken Bohemiens Weißwein, dazu gibt es Quiche mit Salat.
Düsseldorf-Bochum
Auf der Königsallee sitzt ein Obdachloser. Es ist kurz nach elf am Dienstagmorgen, nicht wärmer als am Vortag. Der Mann wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Auf „Guten Morgen“reagiert er mit offenen Augen, aber verschlossenem Mund. Er konzentriert sich auf sein Business. Kundschaft in Winterblousons wirft zwei Euro in seinen Pappbecher.
Die Buchhandlung Müller & Böhm, Bolkerstraße. Im Hinterhaus wurde 1797 Heinrich Heine geboren, die gleichnamige U-Bahn-Haltestelle um die Ecke dient Jugendlichen als Treffpunkt. In der Nachbarschaft gibt‘s Schnaps aus der Kloschüssel.
Mathias Meis ist Buchhändler, trägt Schnurrbart, Wollmütze, einen grauen Pullover über dem Hemd und Hornbrille. Er soll ein paar Sätze über den Zustand der Gesellschaft sagen. Meis, 33, spricht geschliffen. Er wisse den materiellen und kulturellen Wohlstand in Deutschland zu schätzen, definiere sich aber nicht über seine Staatsbürgerschaft. Meis sagt: „Mir macht das Sorgen, dass die AfD mit 25 oder 30 Prozent das macht, was der Salvini in Italien macht, die Demokratie abschafft, einen autoritären Führer installiert.“Meis, das verrät Google, sitzt für die Grünen im Stadtrat.
Zwischen Düsseldorf und Breitscheid führt die B1 über die A52 zu Europas längster Caravan-Meile. Auf drei Kilometern grenzt in Mülheim an der Ruhr ein Wohnmobilhändler an den anderen. Sie verkaufen Lebensgefühle, Freiheit und Männlichkeit. Und den Baron S590, einen Grill für 1399 Euro.
Kai Dhonau, 48, Schalketasse im Regal, versteht etwas von seinem Geschäft. Seinem Gast rät er, ein Wohnmobil für seine Deutschlandreise zu nutzen, dann müsse nicht jeden Abend ein Hotel her. Camping, sagt er, ist klassenfrei. Freiheit, Unabhängigkeit, Natur, deswegen fahren die Deutschen so auf Caravan ab, erzählt Dhonau, der Wohnmobilhändler.
Im Radio läuft Westernhagen. Wieder hier, in meinem Revier.
In Mülheim-Heimaterde steht das älteste Einkaufszentrum Deutschlands, das RheinRuhr-Zentrum.
Im EG sitzen Rentner bei Tchibo, trinken Kaffee für 1,35 Euro und gucken schweigend durch die Glasscheibe. Die Männer, die auf Bänken hocken, warten. Auf die Frau, auf bessere Zeiten oder dass der Tag vorübergeht. Es könnte Freitag sein oder Dienstag, elf oder 23 Uhr. Es gibt kein Tageslicht. Auf einem Plakat trägt ein junger Mann eine Bratwurst. Draußen regnet es.
Ab jetzt ordnet sich die B1 der A40 unter. Als der Pott 2010 Kulturhauptstadt Europas war, wurden Brücken entlang der A40 mit Sprüchen ausgestattet. Seitdem kann man im Stau „Ich bin eine von wir“lesen, oder „Ich komm aus wir“.
Feierabend in Bochum-Wattenscheid, Nieselregen. Der Metzger wirbt mit dem Spruch: „Der beste Fisch ist immer noch der Schnitzel.“Am Holzkohlegrill ein paar Meter weiter gibt es keinen Fisch, aber Currywurst für Zweisiebzig.
Zwei Schichtarbeitern tropft der Regen in die Wurst. Sie essen schneller. Sagt der eine: „Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge. Man hört nix mehr sonst. Und wir rackern uns den Arsch ab.“Sagt der andere nach einer Pause: „Uns hilft keiner.“
Kurzes Schweigen, Schmatzen. Der UPS-Fahrer bestellt wie immer, die Frau aus der Pizzeria nimmt zwei Currywürste mit. Die beiden Männer kommen auf ihre Kontakte mit dem Jobcenter zu sprechen. Laufen ganz gut, die Maßnahmen. „Schalker, ich wünsch dir was.“Tschau. Eine Taube pickt matschige Pommes vom Boden.
Ein Asiate im Bermudadreieck, Bochumer Ausgehviertel, der Assistenzarzt redet sich in Rage.
„Da stellt sich eine Familie in der Notaufnahme vor, der Junge hat starke Bauchschmerzen. Die kommen nicht von hier, können kaum Deutsch. Wir kümmern uns um den Jungen, behandeln ihn. Als wir drei Stunden später auf dem Zimmer nach ihm sehen wollen, hockt die ganze Familie bei ihm. Die haben Pizza bestellt, für den Jungen mit Bauchschmerzen auch. Ganz ehrlich, die spinnen doch.“
Das Gesundheitssystem will sparen, immer, sagt der anonyme Arzt. Auf der Intensivstation gebe es Schichtdienste, weil man sich dort übermüdete Ärzte nicht leisten kann. Dort, wo der junge Assistenzarzt arbeitet, gibt es keinen Schichtdienst, aber übermüdete Ärzte.
Bochum-Soest
Westfalenhallen, Dortmund. Die B1 führt zum Hauptfriedhof, Am Gottesacker 25, auf dem Sandra Großpietsch, 44, wartet und sagt: „Ich arbeite sehr gerne mit Menschen.“
Gärtnermeisterin Großpietsch ist auf dem Dortmunder Hauptfriedhof zuständig für die Vergabe der Gräber. Sie zählt nicht auf, was es alles gibt, sie zeigt es mit einem Elektromobil. 118 Hektar sind zu weit zum Laufen. Der Friedhof ist bunt, beinahe vital. Auf einigen Grabstätten klebt das Logo des BVB.
Großpietsch, Drei-Fragezeichen-Fan, fährt links, zweimal rechts, und erzählt von Erdwahlgrab, Erdreihengrab, Urnenwahlgrab, Haingrab, Baumgrab, Urnennische, Urnenreihengrab und Aschestreufeld. Raus aus dem Wagen, kurze Erklärung, weiter geht’s.
„Die Gesellschaft verändert sich, also verändert sich auch die Friedhofskultur“, sagt Sandra Großpietsch. „Dass gemeinsam eine Grabstelle gepflegt wird, gibt es kaum noch.“Deswegen bieten sie acht Grabarten pflegefrei an; die Angehörigen müssen sich um nichts kümmern. Die Friedhofsgärtner jäten das Unkraut, pflücken das Laub, mähen den Rasen.
Inzwischen entscheidet sich ein Großteil der Angehörigen für ein pflegefreies Grab, erzählt sie. „Man hat keine Verpflichtung, aber immer eine Anlaufstelle.“Sie sagt das wie ein Bäcker, der New York Cheesecake statt Frankfurter Kranz verkaufen muss.
Ein paar Kilometer zurück, im Radio singt Rea Garvey „Kiss me like you want me“. Westfalenstadion. Der BVB spielt am Abend, es ist Halloween, im Pokal gegen Union Berlin. Auf dem Weg zum Stadion kommen fünf Mädchen aus einem Fitnessstudio. Die eine sorgt sich, ob ein Junge sie süß findet. Die anderen vertreten unterschiedliche Auffassungen.
Block 78, Reihe 41, Platz 14. Der Stadionsprecher erzählt von einem jungen, sehr talentierten Spieler, Jahrgang 2000, Jaden irgendwas. Männer tragen Jacken, auf die Vereinsnamen gedruckt sind, etwa der SV Sorgensen, und Bierstiegen, auf denen „Herrenhandtasche XL“steht. Das Pärchen in Reihe 38 knutscht zur Hymne und später zu jedem Ballkontakt. Nach 16 Spielminuten beginnen sie im Stadion, rhythmisch zu klatschen.
Beim Stand von 2:1 für Dortmund in der 85. Spielminute verlässt der Reporter das Stadion. Draußen angekommen, fällt das 2:2, Verlängerung.
Ein Hotel an einer Soester Einfallstraße.
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