Im Schatten der Riesen
Am Sonntag wird in Duisburg-Hochheide eines der größten Hochhäuser des Landes gesprengt. Mit fünf weiteren Bauten hat es das Viertel verändert. Unser Autor verbindet lebhafte Kindheitserinnerungen mit dem Gebäudekomplex.
Der Niedergang Hochheides wird mit einer kleinen Feierstunde eingeläutet. Das ahnt natürlich niemand, als 1969 der obligatorische erste Spatenstich für den ersten Weißen Riesen erfolgt. Die Stimmung ist euphorisch. Sechs Hochhäuser mit jeweils 20 bis 22 Geschossen und 1440 Wohnungen locken Käufer aus der ganzen Region. Die Aussicht aus den oberen Etagen ist phänomenal.
Der Duisburger Stadtteil boomt Mitte der 1970er Jahre wie kaum ein anderes Viertel im Ruhrgebiet. Es ist schick und entspricht dem Zeitgeist, in einem der gewaltigen Betonklötze zu wohnen, die schnell weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt werden. „Vom Bankdirektor bis zur Rotlichtgröße – jeder wollte anfangs dort wohnen. Alle haben an das Projekt geglaubt“, sagt Udo Vohl, Vorsitzender des Freundeskreises historisches Homberg. Die vielen Probleme, die das überdimensionierte Wohnprojekt mit sich bringt, sieht damals noch keiner.
Ein halbes Jahrhundert später, müssen die städtebaulichen Fehler von damals korrigiert werden, unter dem das Viertel bis heute zu leiden hat. Am Sonntag soll der erste der sechs Riesen fallen. Mit 300 Kilogramm Sprengstoff dürfte sich eines der Hochhäuser in einen gigantischen Berg aus Schutt und Asche verwandeln. Das 60 Meter hohe Gebäude soll innerhalb von zehn Sekunden in sich zusammenfallen. 20 Wasserwerfer sollen verhindern, dass das Viertel im Staub versinkt. 2500 Menschen müssen die Gefahrenzone verlassen, weitere 1000 in ihren Wohnungen bleiben. Schaulustige aus ganz Deutschland werden erwartet. Selbst NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) will nach Hochheide kommen. Die Sprengung wird live im Fernsehen übertragen.
Bis Ende der 80er Jahre ist zumindest vordergründig vieles noch in Ordnung in Hochheide. Es gibt die sogenannte Ladenstadt mit Supermärkten, ein großes Karstadt, zwei Spielwarengeschäfte, Modeboutiquen, Kneipen und Restaurants. Zum Wochenmarkt kommen Kunden aus der Nachbarstadt Moers. Zu jedem Riesen gehören Spiel- und Bolzplätze. Drei Grundschulen liegen im Schatten der Hochhäuser. Ebenso Kindergärten. Es geht lebhaft und bunt zu. Zuweilen auch brutal, selbst unter Kindern: Heftige Raufereien gehören zum Alltag, blaue Augen, aufgeplatzte Lippen und blutende Nasen.
Häufig sind es Ältere, die Jüngere verprügeln. Selbst Kindergartenkinder werden nicht verschont. Früh lernt man einzustecken, aber auch auszuteilen. Und wegzulaufen, wenn es nötig ist – was oft passiert. Petzen und Heulsusen haben es schwer. Auch wenn es mitunter hart zugeht, steht man füreinander ein. Man fühlt sich als „Hochheider Jung“– nicht als Duisburger. Das sind die auf der rechten Rheinseite. Und das ist bis heute so geblieben. „Der Rhein trennt die Stadt“, sagt Manfred Roth vom Freundeskreis historisches Homberg. Wie ein Riss.
Heute werden die Hochhäuser oft als Schandflecke bezeichnet. Damals waren sie es keineswegs. Ihre Giebel sind mit wertvollem Blanc-clair-Marmor aus den Steinbrüchen von Carrara versehen, den schon Michelangelo für seine Skulpturen benutzt haben soll. Die Fensterrahmen sind aus afrikanischen Hartholz gefertigt. Die Wohnanlage wird 1969 von der NRW-Landesregierung auf der Ausstellung „Landesentwicklung und Städtebau“als Musterbeispiel für Stadterneuerung hervorgehoben. Serienmäßig ausgestattet sind die Wohnungen mit Akustikplatten an den Zimmerdecken, PVC-flex-Fußböden, Einbauküchen und Ventilatoren. Eigentumswohnungen werden für 790 Mark pro Quadratmeter verkauft. Es gibt aber auch viel sozialen Wohnungsbau, die Mieten dafür liegen bei 3,20 Mark pro Quadratmeter.Alle Bevölkerungsschichten sollen vertreten sein.
In den 80er Jahren geht es rau zu auf den Hochheider Bolzplätzen, die sich in Gitterkäfigen hinter den Hochhäusern befinden. Hier spielt das Alter keine Rolle. Es zählt nur, ob man kicken kann oder nicht. Gespielt wird auf Schotter oder Asphalt. Italiener gegen Deutsche, Vietnamesen gegen Türken, Hochhaus gegen Hochhaus, Otto-Straße gegen Friedrich-Ebert-Straße – Fußball von morgens bis abends, bis die Knie blutig sind. Wer richtig gut ist, darf für den VfB Homberg dem Ball hinterherjagen, die erste Mannschaft spielt Ende der 80erJahre in der damaligen 3. Liga. Wer nicht so gut kickt, geht zu Hochheide 08. Schon Ende der 70er Jahre macht Hochheide bundesweit immer wieder von sich reden – meist jedoch negativ. Von „Selbstmord-Hochhäusern“und „toten Riesen“ist zu lesen, als sich Suizide häufen. Menschen stürzen sich fast wöchentlich von den Dächern, darunter auch junge Pärchen, die Hand in Hand in den Tod springen. Erst als man den Zugang zu den Dachterrassen schließt, hört die traurige Serie auf. Zeitweise soll es deutschlandweit nirgends so viel Kleinkriminalität auf einer so kleinen Fläche gegeben haben wie zwischen den Schluchten der Hochhäuser. In den Bauten selbst lebt es sich anonym. Häufig kennen sich nicht einmal die direkten Nachbarn auf derselben Etage. „Es kam immer wieder vor, dass Leichen wochenlang in den Wohnungen lagen und nebenan niemand etwas davon mitkriegte“, sagt Hobbyhistoriker Roth. Auch wegen dieser Anonymität verfällt die Siedlung zusehends.
Anfang der 90er Jahre kippt das Viertel endgültig, die Gegend verkommt zu einem sozialen Brennpunkt. Niemand will mehr in den Hochhäusern wohnen. Wer wegziehen kann, tut es. Fehlende Modernisierungen (Aufzüge werden monatelang nicht repariert) sowie häufige Eigentümerwechsel tragen ihren Teil zum Niedergang bei. Zum ersten Mal wird bereits Mitte der 80er Jahre öffentlich von Abriss gesprochen. Immer öfter ist von einer „No-Go-Area“die Rede, von Banden, die die Hochhäuser beherrschen und Passanten auf der Straße ausrauben. Die zunehmend leerstehenden Hochhäuser werden zum Auffanggebiet für Aussiedler und Flüchtlinge.
„Durch die rasante Fluktuation fand schnell eine Überfremdung und Konzentration von sozial problematischen Familien im Hochhausgebiet statt“, urteilt ein Gutachten im Jahr 2013. Und weiter; „Wechselnde Eigentumsverhältnisse, überzogene Renditeerwartungen und Sanierungsrückstände ließen in einigen Häusern die bekannte Spirale der sozialen Abwärtsentwicklung in Gang kommen.“Liest man sich die Broschüren noch einmal durch, mit denen damals für den Wohnpark geworben worden ist, fragt man sich: Warum scheiterte das Projekt so krachend? Zumal es von heutigen Wohnkonzepten gar nicht mal weit entfernt ist. Vom modernen, urbanen familienfreundlichen Wohnen im Grünen mit Parkanlagen ist da die Rede. Von Spielplätzen und Parkplätzen vor der Tür. Unbekümmertes Wohnen wird versprochen. Klingt das nicht ähnlich wie die Verheißungen der vielen hochpreisigen Wohnkonzepte der heutigen Zeit?
Erzählt werden kann die Geschichte der Weißen Riesen nicht ohne Josef Kun, den Homberger Bergmannssohn, der es seinerzeit als gelernter Maurer ohne Volksschulabschluss zu einem der größten Baulöwen Europas gebracht hatte. Tatsächlich ist es Kun, der den Wohnpark Hochheide aus dem Boden stampft. Für die Errichtung des Komplex braucht er Platz. Die alte Bergmannssiedlung Rheinpreußen wird daher platt gemacht, die gesamte Fläche zum Sanierungsgebiet deklariert. 31 Millionen Mark schießen die Banken dem Homberger Bauunternehmer für das Großprojekt vor, das alle bekannten Dimensionen sprengt.
Die sechs Riesen sind nur ein Teil der Anlage. Gebaut werden sollen mehr als 5000 Wohnungen, ein großes Einkaufszentrum, 60 Kinderspielplätze, 2600 unterirdische Stellplätze und eine Parkanlage mit 605 Meter langem künstlichen Wasserlauf. Doch im Sommer 1973 ist Kun pleite – mitten in der Bauphase. Er hat 560 Millionen Mark Schulden, 3500 Arbeiter stehen auf der Straße. Der Baulöwe vom Niederrhein hat ausgebrüllt, schreiben die Zeitungen. Banken und Immobilienspekulanten springen ein und bringen das Großprojekt zu Ende.
Damals wie heute ist das Areal als Sanierungsfläche ausgezeichnet. Und einmal mehr stehen die Zeichen in Hochheide auf Aufbruch. Mit dem Abbruch des ersten Riesen am Sonntag soll der Stadtteil wieder aufgewertet werden. Ein Park ohne Wohnbebauung ist geplant. Aber dafür müssen erst andere Riesen weichen – möglichst alle. Das aber kann dauern. Einige sind noch bewohnt – von Mietern und Eigentümern. Und die wollen nicht raus. Es gibt bereits Proteste – genau wie 1967, als die Bergmannssiedlung für den Bau der Hochhäuser abgerissen werden sollte. In Hochheide hofft niemand, dass sich Geschichte wiederholt.
Unser Autor wuchs in den 80er Jahren in Hochheide auf und spielte als Kind fast jeden Tag in der Hochhaussiedlung. 1989, als er neun Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Moers.