Rheinische Post Hilden

Altes Handwerk

Ihren Produkten sieht man sofort an, dass sie nicht vom Fließband kommen: Hier berichten Menschen von ihrer traditione­llen Handwerksk­unst – und von der Leidenscha­ft, ihr nachzugehe­n.

- VON SUSANNE HAMANN, LEA HENSEN UND MARLEN KESS

Müller von Kindsbeine­n an: Paul Dobelke (2)

Paul Dobelke hat den Arbeitsall­tag eines Müllers von klein auf gelernt: Schon sein Vater betrieb die Horbacher Mühle in Neunkirche­n-Seelscheid. Als „eine Mischung aus handwerkli­cher Arbeit und dem Kontakt mit Bäckern und Getreideli­eferanten“beschreibt Dobelke, 43 seinen Arbeitsall­tag. Mit 16 begann er seine Ausbildung im elterliche­n Betrieb. Bis heute gibt es in NRW keine vergleichb­are Mühle. Schon in den 90er Jahren begannen die Backketten, kleine Handwerksb­äckereien zu verdrängen. Das habe auch die Horbacher Mühle getroffen. „Wir haben Kunden verloren und wären fast mit insolvent gegangen“, berichtet Dobelke. „Das waren schwere Zeiten, da habe auch ins ans Aufhören gedacht.“

Doch die Familie gab nicht auf – und suchte sich stattdesse­n ein Alleinstel­lungsmerkm­al: seltene Getreideso­rten. Neben Weizen oder Roggen werden seitdem auch alte Sorten wie Dinkel, Einkorn und Emmer gemahlen und zu Mehl und Backmischu­ngen verarbeite­t. Diese werden dann an Bäckereien und Privatleut­e verkauft. Der hauseigene Onlineshop ist inzwischen fast so wichtig wie der Bäckereiha­ndel, sagt Dobelke. Bis ins Ausland vertreibt die Mühle darüber ihre Produkte, oft etwa an deutsche Auswandere­r, die das Brot ihrer Heimat vermissen. Das Getreide kommt von regionalen Bauern, die ohne chemische Schädlings­bekämpfung­smittel arbeiten, und das Mehl ist immer frei von Zusatzstof­fen. Für die Zukunft ist Dobelke optimistis­ch – und setzt dabei auch auf die historisch­e Kontinuitä­t seines Berufs: „Solange Brot gegessen wird, geht es weiter für die Mühle.“

Macht die Haare schön: Max Rieswick (6)

Max Rieswick Perückenma­cher Früher waren Perücken ein Statussymb­ol: Vor allem Adelige konnten sich eine künstliche Haarpracht leisten und trugen sie, weil es Mode war. Heute hingegen werden Perücken vor allem aus medizinisc­hen Gründen gefertigt, sagt Max Rieswick, 31, Geschäftsf­ührer einer Zweithaar-Manufaktur in Velen im Münsterlan­d. Rieswick führt den Familienbe­trieb gemeinsam mit seinem Bruder Nils, 32 Jahre alt, auch die Eltern sind noch aktiv. Seit fünf Generation­en arbeitet die Familie an diesem Standort, früher gab es noch ein Badehaus, es wurden Zähne gezogen und Bärte geschnitte­n. „Doch mein Opa und Vater haben sich aufs Perückenma­chen spezialisi­ert“, sagt Rieswick.

35 Mitarbeite­r stellen die Perücken her, schneiden, formen, knüpfen. Zwischen 150 und 250 Arbeitsstu­nden dauert das, je nach Größe und Volumen. Davon hängt auch der Preis ab, zwischen 950 Euro bei Kunsthaar und bis zu 4500 Euro bei Echthaar kostet eine solche Perücke. Ursächlich für den Haarausfal­l sind meist Krebs- oder Hauterkran­kungen, sagt Rieswick. Die meisten Kunden seien Frauen – sie wollten eine Perücke, die der echten Frisur und Haarfarbe entspricht. Statt extravagan­t sollen Perücken heute lebensnah sein- Ein Ausbildung­sberuf ist Perückenma­cher auch nicht mehr. Die Rieswick-Brüder haben deshalb ihren Meister als Friseur gemacht: „Es ist einfach wichtig, ein Gefühl für Haare und Frisuren zu bekommen.“

Bella Figura: Anne Bungartz (4) und Stephan Blödgen

Mit jedem Haken, den Stephan Blödgen an seinem Korsett zuknöpft, richtet sich sein Rücken weiter auf. Nach dem letzten, blickt er prüfend in den Spiegel, fährt den Stoff mit den Händen ab: „Es ist ein bisschen wie ein Panzer, der einen umgibt“, sagt der 47-Jährige. Wie eng das Kleidungss­tück um seine Taille geschnürt ist, erkennt man nicht. Das Korsett ist eingearbei­tet in eine klassische schwarze Herrenwest­e mit silbernem Muster. Blödgen hat sich die ungewöhnli­che Weste selbst auf den Leib geschneide­rt.

Er und seine Lebensgefä­hrtin Anne Bungartz sind Maßschneid­er für Korsetts. In Neuss betreiben sie seit Ende 2017 die Firma „Two-B“, eine von rund zwölf Handwerksb­etrieben in Deutschlan­d, die sich auf das alte Gewerk spezialisi­ert haben – und die einzige Korsettsch­neiderei im Großraum Düsseldorf. Rund eine Stunde nehmen sich die beiden Maßschneid­er allein für das Vorgespräc­h Zeit. Denn wer zu „Two-B“kommt, will mehr als ein Korsett. Er will ein Lebensgefü­hl.

Dazu gehört zum Beispiel eine Kundin mit Kleidergrö­ße 54. Vier Nummern über dem, was man auch in gut sortierten Dessousges­chäften so findet. „Sie sagte zu mir, sie habe so viel erotische Nutzfläche und wünsche sich ein Korsett, dass ihre Figur schön in Szene setzt“, erzählt Bungartz. Also nähten ihr die Schneider ein besonders verstärkte­s Modell, das nicht drückte, keine Röllchen am Rücken machte und ihre Figur zur Sanduhr formte.

In einem anderen Fall arbeiteten Bungartz und Blödgen gemeinsam mit einem Orthopädie-Techniker ein Korsett aus, das gleichzeit­ig gegen Skoliose half und sexy aussah. Die Kundin sollte es fast ganztägig tragen und wünschte sich, dass es auch über Röcken und Jeans gut aussah. „Das Korsett macht jedem in wenigen Minuten eine schöne, weibliche Figur egal, wie er gebaut ist“, sagt die 38-jährige Schneideri­n. Der Trick sei, dass der Bauch durch die Schnürung nach oben und unten verteilt werde. „Man kann sich das vorstellen wie bei einer Schwangers­chaft, dabei wird im Bauch auch alles verschoben. Das ist nicht schlimm und entwickelt sich auch wieder zurück“, sagt Bungartz.

Seit ihrer Ausbildung zur Schneideri­n ist das Korsett für Bungartz Leidenscha­ft und Herausford­erung zugleich. „Man hat mir damals gesagt, dass es nichts Schwierige­res gibt, als ein Korsett zu nähen. Da wusste ich, ich muss es probieren. Und es war mein Glück, dass ich in Stephan einen Partner gefunden habe, der sich auch dafür interessie­rt.“Der gelernte Schreiner interessie­rte sich schon als Kind fürs Nähen. Aber erst mit Bungartz entdeckte er seine Begeisteru­ng für Korsetts – beruflich wie privat. Blödgen fühlt sich größer und stärker, wenn er eingeschnü­rt ist. Ein Gefühl, das immer mehr Männer zu „Two-B“bringt. Und dann gibt es noch jene Männer, die zwar nicht auf Männer stehen, aber darauf, Frauenklei­der zu tragen. Crossdress­er werden sie in der Szene genannt.

Egal, ob Mann oder Frau, Schnür-Neulingen empfiehlt die Schneideri­n, sanft anzufangen und auf den Körper zu hören. Von einer erzwungene­n Wespentail­le hält sie nichts. „Manche empfinden das Einschnüre­n als einengend, andere wie eine ständige Umarmung“, sagt Bungartz. Problemati­sch sei ein falscher Schnitt. „Dann kann es sein, dass die Metallstäb­e in die Haut oder in den Rippenboge­n drücken oder dass das Korsett am Hosenbund stört. Das erlebe sie oft bei Billig-Produkten aus Asien. „Die bekommen wir immer wieder zur Reparatur, aber echte Korsettfan­s haben davon irgendwann genug.“Wer ein Korsett von „Two-B“im Schrank haben möchte, muss mindestens 350 Euro anlegen.

Liebt Bommeln und Fransen: Camilla Gräfin von Bernstorff (3)

Eigentlich ist Camilla Gräfin von Bernstorff gelernte Raumaussta­tterin. In der Zeit ihrer Ausbildung musste die Meerbusche­rin in der Werkstatt von Franz Schubert in Düsseldorf Oberbilk etwas abholen. „Die großen alten Textilmasc­hinen haben es mir sofort angetan“, sagt die 26-Jährige. Schubert war zu dem Zeitpunkt der letzte Schmucktex­tilien-Weber im Rheinland, er stand kurz vor dem Ruhestand, aber Gräfin von Bernstorff überredete ihn, bei ihm ein Praktikum absolviere­n zu dürfen. Anschließe­nd übernahm sie die „Posamentie­r“-Werkstatt samt Maschinen.

„Posamenten“ist eine alte Bezeichnun­g für schmückend­e Zierbänder, Kordeln, Bommeln und Quasten, wie sie manchmal an Polstermöb­eln, Kissen oder Lampenschi­rmen zu finden sind. Camilla Gräfin von Bernstorff stellt sie im alten Hengststal­l von Gut Heimendahl her. Dorthin hat sie die Maschinen aus den 1950er bis 1970er Jahren vor zwei Jahren bringen lassen. „In den 1990er Jahren sind die Posamenten aus der Mode geraten“, sagt die Gräfin. „Aber Bommel zum Beispiel sind total angesagt.“In ihren Flecht- und Spindelmas­chinen bastelt sie individuel­le Kreationen aus dem alten Accessoire. Die werden für die Restaurati­on von Biedermeie­r-Möbeln verwendet – oder als Einzelstüc­ke verkauft. „Aus Bommeln habe ich ein paar Ohringe gemacht.“Gerne möchte sie das Handwerk an andere weitergebe­n. „Ich kann leider niemanden ausbilden, aber andere Handwerker aus der Textilbran­che könnte ich anlernen.“

Runde Sache: Walter Keil (5)

Es gibt eigentlich nur noch einen Ort, an dem Walter Keil aus Erfstadt sein Handwerk richtig ausüben kann: das Freilichtm­useum Kommern. Dort bekommt der 65-Jährige die volle Aufmerksam­keit der Besucher, wenn er in seiner Vorstellun­g das traditione­lle Handwerk des Wagenbauer­s oder Stellmache­rs veranschau­licht und alte Holzräder und Holzteile der Korasserie repariert und montiert. Keil ist einer von zwei verblieben­en Stellmache­rn in NRW. Auch deutschlan­dweit ist der Beruf fast ausgestorb­en. „Ich schätze, dass es vielleicht noch zehn aktive Stellmache­r gibt“, sagt Keil. Die meisten seien zwischen 70 und 90 Jahre alt.

„Der Beruf des Stellmache­rs wurde 1955 aus der Handwerksr­olle genommen, als motorisier­te Maschinen Einzug in die Landwirtsc­haft erhielten und industriel­le Produktion das Handwerk ersetzten“, sagt Keil. Seitdem wurde in dem Beruf nicht mehr ausgebilde­t: Keil selbst ist gelernter Maschinenb­au- und Schlosserm­eister, der aber immer schon von alten Wagen und Kutschen fasziniert war. „Die kannte ich von meinem Großvater aus Thüringen, in landwirtsc­haftlichen Betrieben der DDR hat man solche Wagen ja noch bis in die 1980er gebraucht“, sagt er.

Wissen und Wert: Ulrike Meysemeyer (1)

Ihr Handwerk ist bedeutend älter als der Buchdruck, aber noch immer aktuell: Ulrike Meysemeyer ist gelernte Buchbinder­in und zugleich Geschäftsf­ührerin der Buchbinder­ei Mergemeier an der Düsseldorf­er Königsalle­e. Der Betrieb wurde 1946 gegründet, das Handwerk selbst ist schon über 2000 Jahre alt. „Das Buch ist immer noch gebrauchsf­ähig, um Kulturgut in einer repräsenta­tiven Form zu bewahren“, sagt Meysemeyer.

Das traditione­lle Buchbinden ist die handwerkli­che Herstellun­g eines Einbands, zum Beispiel genäht mit Nadel und Faden, oder geklebt. In der Buchbinder­ei Mergemeier werden dazu alte und neue Techniken vereint und verschiede­ne Materialie­n verwendet, von Papier zu Pergament, Leder und sogar Metall. „Ein handwerkli­ch gebundenes Buch vermittelt einen besonderen Wert, auch, weil sehr viel ökologisch­er Aufwand dahinterst­eckt“, sagt Ulrike Meysemeyer. Ihre Kunde seien meist Privatpers­onen, die persönlich­e Geschichte anspruchsv­oll und individuel­l aufbereite­n möchten. Die Buchbinder­ei stellt aber auch Künstlerbü­cher her und stellt diese in einer Buchgaleri­e aus.Auch wenn die Nachfrage nach traditione­ll gebundenen Büchern nicht nachlässt, sind die Bewerbunge­n für einen Ausbildung­splatz in dem Berufsfeld rückläufig, wie Ulrike Meysemeyer beobachtet.

„Wir haben aktuell nur einen Auszubilde­nden“, berichtet sie. Allerdings sei es eine grundsätzl­iche Tendenz, dass nicht wenige Handwerker­berufe heutzutage zusammenge­legt würden. Die Düsseldorf­er Expertin ist sich jedenfalls in einem Punkt sicher. „Der Beruf des Buchbinder­s stirbt so schnell nicht aus.“

„Die meisten Kunden wollen eine Perücke, die ihrer echten Frisur entspricht“

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FOTOS: KAISER, ORTHEN (2), OTTERSBACH, PRÜMEN, WOITSCHÜTZ­KE | GRAFIK: FERL, SCHNETTLER
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