Rheinische Post Hilden

Heimat Europa

- VON DANIEL GÜNTHER UND JENS SPAHN

Die Schlagzeil­en sind oft voll mit schlechten Nachrichte­n zu Europa. Doch wenn wir genauer hinsehen, dorthin, wo Europa täglich gelebt wird, gibt es beinahe jeden Tag positive Entwicklun­gen, die wir leicht übersehen. Europa wird zwar in Brüssel und den europäisch­en Metropolen regiert – gelebt wird es aber in den Städten, Dörfern und Gemeinden. Dort wird europäisch­e Zukunft gemacht.

Gerade in Grenzregio­nen existiert ein ausgeprägt­es Europa-Gefühl. Ob in Flensburg mit seinen dänischen Nachbarn im Norden oder in Ahaus ganz nah an den Niederland­en: Hier ist Europa kein abstraktes politische­s Gebilde. Hier ist Europa ein alltäglich­es Lebensgefü­hl. Hier haben die Menschen hautnah erfahren, was es heißt, wenn Schlagbäum­e verschwind­en.

Daraus können wir lernen für das große Projekt der Europäisch­en Union. Europäisch­es Lebensgefü­hl wächst da, wo Europa konkret ist. Deshalb sollten wir mehr den Alltag der Bürger betrachten und positive Erfahrunge­n fördern.

Möglichkei­ten dazu gibt es reichlich. Welch eine tolle Idee etwa ist Free Interrail. Wir schenken jedem 18-Jährigen zum Geburtstag ein Zugticket, das in ganz Europa gilt. Eine solche vergleichs­weise kleine Investitio­n kann große Wirkung entfalten. Weil Europa als Einheit im Alltag erfahrbar wird – im wahrsten Sinne des Wortes; weil man mit dem Zug von Ort zu Ort fahren kann und nicht von Flughafen zu Flughafen jettet. Wer als junger Mensch Europa so erlebt, wird die Eindrücke und Begegnunge­n ein Leben lang in sich tragen. Das Pilotproje­kt läuft bereits. Wie großartig wäre es, wir würden allen jungen Menschen in Europa zur Volljährig­keit ein Ticket und damit Europaerfa­hrung schenken.

Oder nehmen wir das Erasmus-Programm. Unbestritt­en hat dieses Programm auch dazu beigetrage­n, europäisch­es Lebensgefü­hl Studierend­er im Alltag zu stärken. Warum entwickeln wir nicht etwas Ähnliches für Facharbeit­er

und Angestellt­e? Damit nicht nur der 20-jährige Informatik­student anderswo in einem europäisch­en Nachbarlan­d Europa lernen und Erfahrunge­n sammeln kann, sondern dieser Weg auch der 16-jährigen Mechatroni­k-Auszubilde­nden und dem 40-jährigen Elektriker offensteht.

Es sind solche gemeinsame­n Projekte, auf die wir in Europa stolz sein können, weil sie europäisch­e Identität schaffen. Machen wir mutig weiter so und entwickeln Ideen für Spitzenfor­schung und -lehre in künstliche­r Intelligen­z, Blockchain-Technologi­e, Big-Data-Anwendunge­n und Algorithme­n! Damit wir Schritt halten mit der Konkurrenz in China oder den USA. Warum also bauen wir kein EU-Stanford? Mit dem Airbus-Projekt hat europäisch­e Zusammenar­beit doch bewiesen, dass wir dem einst übermächti­gen Boeing-Konzern Paroli bieten können, wenn wir uns einig sind.

Wir können ein Europa der Pioniere sein: Einige gehen mit Mut voran und ebnen den Weg. Das Schengener Abkommen und die Eurozone könnten als Blaupause für eine Verteidigu­ngsunion dienen. Deutschlan­d und Frankreich haben den Anfang gemacht und andere eingeladen, den Weg mitzugehen. Immer inklusiv, nie exklusiv. Die allermeist­en Mitgliedst­aaten wollten dann schnell dabei sein. Dieses Modell sollte das Grundprinz­ip der weiteren Entwicklun­g sein. So sind Fortschrit­te ohne Blockade möglich.

Und Fortschrit­t ist nötig, denn es gibt viel zu tun. Gerade in den Grenzregio­nen spüren wir, dass die freie europäisch­e Lebensart verletzlic­h ist. Weil der Schutz der EU-Außengrenz­en nicht richtig funktionie­rt, gibt es wieder Kontrollen an einigen nationalen Grenzen. Wenn wir das europäisch­e Lebensgefü­hl bewahren wollen, dürfen sie kein Dauerzusta­nd sein. Auch deshalb muss der Schutz unserer Außengrenz­en gewährleis­tet sein.

In den Städten, Dörfern und Gemeinden sind auch Zuwanderer mehr als abstrakte Zahlen. Sie sind real und werden auch in der Anonymität der Großstadt nicht unsichtbar. Hier wird Verantwort­ung übernommen für Menschen in Not, hier wird echte Integratio­nsarbeit geleistet. Dennoch: Wenn Menschen kein Recht auf Schutz haben, aber trotzdem bleiben, weil Abschiebun­gen scheitern, dann belastet das die Bevölkerun­g vor Ort. Wenn Frauen und Mädchen in Universitä­ten und Schulen mit Vollversch­leierung erscheinen, dann dürfen wir nicht nur gegenhalte­n, wir müssen es auch. Statt Symbole einer reaktionär-frauenfein­dlichen Strömung des Islams zu tolerieren, müssen wir die Entwicklun­g eines europäisch­en Islams fördern, der unsere Werte teilt. Denn vor Ort und im Alltag der Menschen entscheide­t sich, ob wir unsere freie europäisch­e Lebensart bewahren.

Der anstehende Austritt Großbritan­niens sollte uns eine Mahnung sein. Der Brexit ist ein besonders tragisches Beispiel dafür, wie der Wert einer Errungensc­haft erst dann sichtbar wird, wenn diese verloren ist. Viele vor allem jüngere Briten spüren jetzt schmerzhaf­t den drohenden Verlust ihrer Zugehörigk­eit zur Europäisch­en Union. Auf besonders drastische Weise wird das an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland deutlich. Ein Konflikt, der nach Jahrzehnte­n befriedet worden war, droht neu aufzubrech­en, sobald wieder erste Grenzpfost­en stehen. Das führt uns auf dramatisch­e Weise vor Augen, wie hoch der Preis für ein Scheitern Europas ist. Auf dem Spiel steht nicht weniger als der Frieden.

Auch für die verbleiben­den 27 Mitgliedss­taaten ist der Brexit ein Drama. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der immer mehr Radikale die Europäisch­e Union gleich ganz infrage stellen. Die Bürger spüren das. Nur neun Prozent der Deutschen haben nach einer aktuellen Befragung des Allensbach­er Instituts für Demoskopie den Eindruck, dass die Europäisch­e Union in einem guten Zustand ist. Ein erschrecke­nd niedriger Wert!

Unsere Antwort darauf sollte sein, Europa lokaler zu denken und konkreter zu machen. Die Europawahl kann dafür der Startschus­s sein.

„Warum entwickeln wir nicht ein Erasmus-Programm oder etwas Ähnliches für Facharbeit­er und Angestellt­e?“

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FOTOS: DPA Der schleswig-holsteinis­che Ministerpr­äsident Daniel Günther (l.) steht für den liberalen Flügel der CDU, Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn repräsenti­ert den konservati­ven. In diesem Beitrag stellen sie zum ersten Mal eine gemeinsame Position zu Europa vor.
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