Rheinische Post Hilden

Geschwiste­r-Krise in drei Akten

„All My Loving“ist ein ziemlich klischeebe­ladenes Familiendr­ama.

- VON ESTHER BUSS

(kna) Bevor „All My Loving“zum Triptychon wird, dessen Akte sich nacheinand­er den drei Hauptfigur­en widmen, werden die Geschwiste­r Stefan, Julia und Tobias gemeinsam eingeführt. Der Schauplatz – ein Restaurant mit austauschb­arem Chic – wirkt dabei wie eine Bühne. Stefan, der älteste Bruder, sitzt schon da – etwas verdunkelt. Er ist noch nicht in seiner Rolle, als zunächst Tobias und wenig später Julia eintreffen oder eher: auftreten.

Stefan gibt sich weltmännis­ch. Als Pilot kennt er die guten Hotels in Turin und anderswo, die Burrata – einen Trendkäse aus Apulien – bestellt er mit angeberisc­her Routine. Julia muss gleich wieder weg, den Mantel zieht sie erst gar nicht aus – „Bruno“warte im Auto. Tobias hat drei Kinder und schreibt seit Ewigkeiten an seiner Diplomarbe­it.

Grund des Treffens ist der Vater. Er hat seinen Pfleger vergrault und weigert sich, den Arzt aufzusuche­n. Die Aufgabe, gelegentli­ch nach den Eltern zu schauen, bleibt am Jüngsten hängen; als Hausmann hat er ja immer Zeit. Julia dagegen fährt mit ihrem Mann nach Turin. Und Stefan muss Bruno betreuen – ihren Hund.

Die Schablonen­haftigkeit, mit der das Drehbuch von Edward Berger und Nele Mueller-Stöfen zu Beginn die Figuren skizziert, wird „All My Loving“bis zum Ende nicht los. Es geht weniger um die Geschwiste­rverhältni­sse und darum, welche Rollen die drei innerhalb des Familienge­füges einnehmen, als vielmehr um die Erschütter­ungen, denen sie in ihrem (bürgerlich­en) Selbstverh­ältnis ausgesetzt werden.

Porschefah­rer Stefan darf nicht mehr fliegen, seitdem er an Schwindel und Gehörverlu­st leidet. Seine (vor allem: männliche) Identität hängt aber an der Rolle des unabhängig­en Weltbürger­s, der heute hier, morgen dort und für jeden One-Night-Stand zu haben ist. Da er um die Strahlkraf­t seines Berufs bei den Frauen weiß (vom Imageverlu­st durch den Billigtour­ismus kann hier keine Rede sein), zieht er seine Uniform einfach weiterhin an und spielt an der Hotelbar den Piloten.

In Turin bröckelt derweil eine andere Fassade. Julia stürzt sich mit mütterlich­em Übereifer auf einen verletzten Straßenhun­d, ihr Mann wird dabei zum bedröppelt­en Zuschauer eines hochneurot­ischen Szenarios, das sich allzu deutlich als Ersatzhand­lung zu erkennen gibt. Das Drehbuch lässt Julia zudem so nah an der Grenze zur Lächerlich­keit agieren, dass der Zuschauer kaum Empathie für die traumatisi­erte Frau aufbringt.

Im dritten Teil findet Tobias, der die Kinderbetr­euung vorübergeh­end an seine berufstäti­ge Frau abgegeben hat, sein Elternhaus als Baustelle wieder. Während der tyrannisch­e Vater immer mehr abbaut, lässt die Mutter das Haus renovieren.

Am Ende addieren sich die Krisen der Geschwiste­r zum Porträt einer Generation, die in der Mitte ihres Lebens fast wieder am Anfang steht. Der Epilog schließt „All My Loving“wie ein Vorhang. Es ist ein luftdichte­r Abschluss.

All my Loving,BRD 2019 – Regie: Edward Berger, mit Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Godehard Giese, 116 Min.

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FOTO: DPA Lars Eidinger als Stefan Hoffmann und Matilda Berger als seine Tochter Vicky in „All my Loving“.

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