Als der Wagen nicht kam
Ich begann meinen Vortrag mit einem erklärenden Hinweis über die Vorgeschichte des Göring’schen Entwurfes, den ich als nebensächlich in die schriftliche Vortragsnotiz nicht mitaufgenommen hatte. Ich hatte nämlich herausbekommen, dass der unmittelbare Anlass zu Görings seltsamem Plan die Absicht war, in seine Verfügungsgewalt den Besitz der Hannoverschen Klosterkammer zu bringen, die das säkularisierte Kirchenvermögen in Hannover für kulturelle Zwecke anerkannt vorbildlich verwaltete. Kaum hatte ich das Wort „Klosterkammer“ausgesprochen, als Keitel mit rotem Kopf erregt auf den Tisch schlug und zu schimpfen begann. Zuerst hatte ich geglaubt, er sei so böse, weil ich vielleicht zu deutlich Kritik an Göring hatte durchblicken lassen. Dann merkte ich aber bald, dass nicht ich, sondern die Klosterkammer Gegenstand seines Zornes war, dem er in deutlichen Kasernenhofausdrücken in folgendem Sinne Lauf ließ: „Ich habe doch im Hannoverschen meinen Besitz und den wollte ich durch Ankauf eines der Klosterkammer gehörenden Waldstücks arrondieren. Diese Leute weigern sich aber, mir den Wald zu verkaufen. Ich brauche ihn aber und wie soll ich sonst mein Geld anlegen.“Letzteres bezog sich wohl darauf, dass er nach der bei den Offizieren verbreiteten Ansicht von Hitler einen Scheck über 150.000 Mark als Dotation erhalten hatte, für die natürlich eine für den Einheitswert gekaufte Waldparzelle eine gute Anlage gewesen wäre, denn Sachwerte gab niemand mehr aus der Hand, nicht einmal die Klosterkammer.
Merkwürdig ist es zunächst, dass der oberste Heerführer in einem
über das Schicksal der Welt entscheidenden Krieg sich überhaupt mit solchen Nebensächlichkeiten wie diesem Führererlass befasst. Es deutet eben auf Mittelmaß, wenn man alle Dinge selbst entscheiden will. Erstaunlich an dem Zornesausbruch ist der Umstand, dass ein Feldmarschall sich einem ihm kaum bekannten kleinen Untergebenen gegenüber so rückhaltlos offenbarte mit einer Gesinnung, die so wenig dem entsprach, was man früher von einem preußischen General erwartet hätte. Noch seltsamer ist der Widerspruch zu dem seitens des in der Nebenbaracke hausenden Führers als Dogma verkündeten Satz: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz.“Anderseits war der Gedanke trostvoll, wie wenig von der nationalsozialistischen Phraseologie in diesen Mann eingedrungen war und wie wenig er sich, jedenfalls unter vier Augen, bemühte, der Phraseologie zu entsprechen. Verständiger, ererbter bäuerlicher Erwerbssinn, selbst wenn er in so tragikomischer Form zum Ausdruck kommt, ist besser als die Vortäuschung irrig gegründeter Tugenden. Keitel war eben kein Feldherr, auch kein über dem Getriebe der Welt stehender vornehmer Herr, sondern ein durchaus brauchbarer und tüchtiger Mann von gutem Mittelmaß, der auch keine unmenschlichen Untugenden zeigte. Er wäre ein guter Regimentskommandeur oder noch besserer Landwirt geworden, wenn er nicht in die diabolischen Fänge Hitlers geraten wäre, der seine menschlichen Schwächen für seine Ziele ausnutzte. Das Nürnberger Urteil gegen ihn war Mord, denn wenn man es schon für zulässig halten sollte, besiegte Generale durch ebenfalls mit Untaten befleckte Sieger aufhängen zu lassen, so doch keinesfalls nur deshalb, weil sie geistig nicht den Anforderungen ihres Amtes entsprachen.
Auch Keitels Stellvertreter Jodl ist zu Unrecht gehangen worden. Er galt für menschlich weniger angenehm als Keitel, aber militärisch für tüchtiger. Jodl hat sich ganz auf die militärische Führung beschränkt und sich aus politischen Angelegenheiten deutlich ferngehalten. Ich habe verschiedentlich Vortragsnotizen aus Wolfsschanze zurückbekommen, die ihm in Abwesenheit von Keitel vorgelegt worden waren, auf denen sein Vermerk stand: „Politisch (oder „juristisch“), entscheide ich nicht.“Dabei handelte es sich zudem um reine Routinesachen ohne jeden heiklen Beigeschmack, die dann bis zur Rückkehr Keitels liegen blieben, oder von Warlimont entschieden wurden.
Warlimont, nominal stellvertretender, praktisch aber wirklicher Chef des Wehrmachtführungsstabes, hatte alle Entscheidungen von Chef OKW vorzubereiten. Nichts ging an Keitel oder Jodl, was nicht vorher Warlimonts Schreibtisch passiert hatte und von ihm zumindest paraphiert worden war. Gerade bei der Unzulänglichkeit von Keitel und der Selbstbeschränkung Jodls auf das rein Militärische lag daher bei Warlimont ein unerhört hohes Maß von Verantwortung. Warlimont, intelligent und energisch, besaß Wissen, und zwar nicht nur auf militärischem Gebiet. Er stammte aus einer gut katholischen Verlagsbuchhandlung, so dass man Bildung und einen festen weltanschaulichen Standort erwarten durfte. Beides traf jedoch nur mit Einschränkungen zu. Er besaß keine eigentliche Herzensbildung. Eitelkeit und Ehrgeiz bestimmten vielmehr sein Wesen. Ursprünglich war er Fußartillerist gewesen, was im alten Heer vor 1914 nach den damaligen irrigen Beurteilungsmaßstäben als wenig elegant galt. Aber es war nun einmal so: Pioniere und Fußartilleristen waren auf der „vanity fair“nicht gefragt. Als er dann in der Reichswehr Feldartillerist und Kommandeur des Düsseldorfer Feldartillerieregiments geworden war, konnte er den inneren Minderwertigkeitskomplex nicht loswerden, den er mit überbetont schneidigem Auftreten und eleganten Uniformen zu kompensieren versuchte. Jedenfalls war das die plausible Beurteilung seitens des in militärischer Psychologie nicht unerfahrenen Herrn von Steinwehr, der in Bezug auf Warlimont häufig das böse Soldatenwort über innerlich nicht ausgeglichene Vorgesetzte brauchte: „Kanonenofen, wenn er warm wird, springt der Lack ab.“Sein eitles Posieren wirkte umso komischer, weil er klein von Statur war, und man merkte, wie er darunter litt, wenn der Gesprächspartner ihn um Kopfeslänge überragte. Auf Grund seines ehrgeizigen Strebens war er unverhältnismäßig früh in seine Machtstellung beim Wehrmachtführungsstab gelangt, die er dann mit all seiner geistigen Wendigkeit auszubauen verstand.
Im Vergleich zu Keitel und Jodl stand er nach Intelligenz und Bildungsgrundlagen über diesen. Auf Grund seiner Herkunft aus dem katholischen Verlag musste er auch bessere Beurteilungsmaßstäbe für den Nationalsozialismus haben als diese.