Tränen zum Abschied
Theresa May hat keinen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse gefunden. Nun muss sie Platz machen für einen Nachfolger.
LONDON Erst als um 9.49 Uhr am Freitagmorgen das braune Podium vor die Tür der Nummer 10 Downing Street geschleppt wurde, war endgültig klar: Dies wird jetzt wirklich der Abgang von Theresa May. Seit Monaten hatte die Premierministerin die Rufe nach ihrem Rücktritt ignoriert. Jetzt nicht mehr. Um kurz nach 10 Uhr trat sie ans Podium. Während ihr Ehemann Philip und ihre engsten Mitarbeiter im Hintergrund zuhörten, erklärte Theresa May, dass sie in zwei Wochen, am 7. Juni, als Chefin der Konservativen Partei zurücktreten werde. Sie bleibe als Interims-Regierungschefin solange im Amt, bis ihre Partei einen neuen Vorsitzenden gefunden habe. „Es wird immer mein größtes Bedauern sein, den Brexit nicht liefern zu können“, sagte sie. Sie habe ihr Bestes gegeben, um das Unterhaus von ihrem Deal zu überzeugen, aber „leider gelang mir das nicht, es ist mir nun klar geworden, dass es im besten Interesse des Landes ist, wenn ein neuer Premierminister diese Anstrengung übernimmt“. Zum Ende ihrer kurzen Rede wallten die Emotionen hoch. Sie gehe nicht mit Groll, sagte sie, „sondern mit großer und bleibender Dankbarkeit, die Gelegenheit gehabt zu haben, dem Land zu dienen, das ich liebe“. Da brach die Stimme, Tränen schossen in die Augen,Theresa May drehte sich um und ging. Um 10.12 Uhr wurde das Podium abgebaut.
Ihre Erklärung besiegelte ihr politisches Ende, aber noch nicht das ihrer Amtszeit. May wird noch Anfang Juni den US-Präsidenten Donald Trump zum Staatsbesuch in London begrüßen. Und sollten die Konservativen bis zur Sommerpause des Parlaments Ende Juli es nicht schaffen, einen Nachfolger zu finden, dann könnte Theresa May sogar noch bis zum September in der Downing Street verbleiben. Aber der Wunsch bei den Torys ist groß, die Amtsübernahme rasch zu regeln.
Mehr als ein Dutzend Bewerber dürfte es geben, wenn der Startschuss offiziell am 7. Juni erklingt. Das Prozedere des Kampfs um die Nachfolge ist wichtig. Zuerst darf die Fraktion der Konservativen auswählen. Die Tory-Abgeordneten ermitteln aus einem breiten Kandidatenfeld durch eine Reihe von Wahlgängen zwei Bewerber. Die beiden Finalisten müssen sich dann einer Urwahl stellen. Damit bestimmen letztlich die rund 125.000 Mitglieder der Konservativen Partei, wer der nächste Regierungschef von Großbritannien wird. Und dabei weiß man: Die Tory-Basis ist ausgesprochen Brexit-fanatisch. Wer von den beiden Finalisten sich als kompromisslosester Hardliner aufspielt, dürfte das Rennen machen.
Zurzeit ist der ehemalige Außenminister Boris Johnson der eindeutige Favorit. Er genießt bei den Parteimitgliedern die größte Popularität, deutlich vor dem Ex-Brexit-Minister Dominic Raab. Beim Wettbüro Betfair schossen Johnsons Chancen von noch rund 25 Prozent in der vergangenen Woche auf satte 40 Prozent am Freitag. Sollte er die Hürde in der Fraktion nehmen können und es bis unter die letzten zwei Bewerber schaffen, hätte er in der Urwahl ein Heimspiel. Viele seiner Fraktionskollegen wollen das verhindern und arbeiten jetzt an einer „Jeder-außer-Boris“-Kampagne.
Johnson ist einer der wenigen Politiker im Land, den jedermann beim Vornamen kennt. Sein politisches Talent hat er bewiesen, als er zweimal in Folge die Bürgermeisterwahl in London – eigentlich eine Labour-Stadt – gewinnen konnte. Seine Popularität verdankt er seinem Mutterwitz und seinem oft losen Mundwerk. „Wenn Sie konservativ wählen“, versprach er einmal während des Wahlkampfs 2005, „wird das Ihren Frauen größere Brüste verschaffen und Ihre Chancen erhöhen, einen BMW zu gewinnen“. Selbst wenn er sich im Ton vergreift und Witzeleien über Schwarze macht oder gleich ganze Städte beleidigt, bringt ihm das Sympathien ein. Über Portsmouth hat er einmal gelästert: „Ein Ort, der zu voll ist mit Drogen, Fettleibigkeit und Labour-Abgeordneten.“Während seiner kurzen Karriere als Außenminister hat er viel diplomatisches Kapital zerschlagen. Für seine Parlamentskollegen steht daher Johnsons Eignung fürs höchste Amt im Staat sehr im Zweifel. Und was viele ebenfalls abschreckt, ist sein Opportunismus. Er hat sich von einem liberal-konservativen Politiker zu einem Brexit-Hardliner gewandelt, der in einem neoliberalen Thatcherismus das zukünftige ökonomische Heil des Landes sieht.
Allerdings ist sein Rivale Dominic Raab, der zweitplatzierte im Nachfolger-Kampf, ein noch viel schärferer Brexit- und Freimarkt-Ideologe. Raab plädiert für einen No-Deal-Brexit, einen ungeregelten Austritt, sollte die EU nicht einknicken und den Austrittsvertrag nachverhandeln. Gemäßigtere Kandidaten wie der Umweltminister Michael Gove oder der Außenminister Jeremy Hunt rechnen sich ebenfalls Chancen auf den Top-Job aus. Doch vielleicht vergebens. Es bleibt Johnsons größter Trumpf, dass er bei einer eventuell vorgezogenen Neuwahl die besten Chancen hätte, die Tories an der Macht zu halten.
Wer auch immer May beerben wird, steht vor einem Trümmerhaufen. Denn weder wird sich mit einem neuen Parteivorsitzenden und Regierungschef etwas an der verfahrenen Brexit-Problematik ändern noch an der verkeilten Machtsituation im britischen Unterhaus. Wie soll es mit dem Austritt aus der EU weitergehen? Darauf hätte wohl auch ein Boris Johnson keine Antwort. So mancher hofft, dass sich der 54-Jährige als „knetbar“erweist. Denn Johnson hat sich in der Vergangenheit als politisches Chamäleon erwiesen, das seine Positionen geschmeidig ändern kann. Die Hoffnung ist, dass, erst einmal im Amt, auch ein Boris Johnson die harsche Realität der Konsequenzen eines harten Brexit erkennt und umsteuert.