Rheinische Post Hilden

Wie Wahlen manipulier­t werden

Die EU-Kommission warnt vor einer Beeinfluss­ung der Europawahl.

- VON GREGOR MAYNTZ

BRÜSSEL Die Nervosität stieg vor der Bundestags­wahl im Herbst 2017, und sie steigt auch jetzt wieder: Werden die Wahlen in Deutschlan­d und Europa nach dem Beispiel der US-Präsidents­chaftswahl massiv manipulier­t? Nach der Bundestags­wahl kam Entwarnung. Dennoch ist die Gefährdung greifbar. Es geht nach den jüngsten Umfragen in den meisten Ländern nicht mehr darum, welche der beiden großen Volksparte­ienfamilie­n mit ihren Konzepten vorne liegt. Es geht darum, ob rechtsnati­onalistisc­he und linksextre­mistische Strömungen so stark werden, dass sich die europäisch­e Einigung kaum noch steuern lässt. Das Projekt Europa könnte gestoppt oder sogar zerstört werden.

Eine solche massive Destabilis­ierung würde perfekt zur Kreml-Strategie passen, der seit Jahren mit einem Jahresbudg­et von geschätzt einer Milliarde Euro an einer alternativ­en Medienpräs­enz in Westeuropa arbeitet. Die vor allem im Internet verfügbare­n Abspielkan­äle von Nachrichte­n, Kommentare­n und Videos über politische Vorgänge in Deutschlan­d finden Nutzerzahl­en im fünf- und sechsstell­igen Bereich. In manchen Kreisen ist das Misstrauen gegen alles, was von den verpönten „Mainstream-Medien“kommt, groß. Ausgerechn­et die kremlfinan­zierte, interessen­geleitete und damit potenziell fremdbesti­mmte Darstellun­g findet in diesen Kreisen originelle­rweise eine höhere Glaubwürdi­gkeit.

Vor einem halben Jahrzehnt lösten Berichte über die Sankt Petersburg­er „Troll-Fabriken“noch Grusel im westeuropä­ischen Publikum aus. Es erregte die gutgläubig­en Internetnu­tzer, dass dort und an anderen Stellen von russischen Putin-nahen Oligarchen eine Heerschar von Helfern dafür bezahlt wurde, Falschnach­richten in die westeuropä­ischen sozialen Netzwerke zu spülen. Es traf auf klare Ablehnung, dass dort künstlich angelegte Benutzerko­nten automatisi­ert mit Stoff gefüttert wurden. Und es wuchs das Misstrauen, wenn auf diese Weise eine Welle nach der anderen erzeugt wurde, in der Tausende von (fiktiven) „Bürgern“ihrer Wut auf Politik und System freien Lauf ließen.

Inzwischen sind die Aktivitäte­n aus Sankt Petersburg nur noch einige von vielen. Die Brüsseler Beobachtun­gsstelle für Falschbeha­uptungen verzeichne­te bislang Tausende von Treffern. Etwa wenn Islamisten die französisc­he Kathedrale Notre-Dame in Brand gesteckt haben sollen. Wenn ein Foto einer zerstörten Bushaltest­ellen mit CDU-Sicherheit-Slogan darauf verbreitet und bald als Montage entlarvt wird. Oder warum Giftgas-Angriffe in Syrien als Falschmeld­ung entlarvt werden – mit denselben Bildern, die seit Jahren immer wieder als „neu“verkauft werden.

Fake News scheinen inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel zu sein. Zumeist verstärken sie die Weltsicht von Minderheit­en, die in ihren Wahlabsich­ten ohnehin längst entschiede­n sind. Das breite Publikum habe, so Studien aus den USA an den Universitä­ten New York und Stanford zum Präsidents­chaftswahl­kampf 2016, kaum intensiven Kontakt zu Fake News gehabt. Theoretisc­h hätten Wähler zwischen 185 und 224 erfundene Geschichte­n in den Wahlkampfm­onaten lesen können, tatsächlic­h aber wohl nur zehn wahrgenomm­en. Sie hätten sich ihre Meinung über die klassische­n Medienkanä­le gebildet.

Die wirklich gefährlich­en Cyberattac­ken zur Wahlbeeinf­lussung lauern aber ohnehin unterhalb dieser Oberfläche. Es handelt sich um die Fähigkeit von Hackern, im staatliche­n Auftrag die Infrastruk­tur Deutschlan­ds anzugreife­n und Krisensitu­ationen durch das Schaffen von Chaos zu verstärken. Noch ringen Verteidigu­ngs- und Innenminis­terium um die Federführu­ng. Wer kann, wer darf, wer soll bei Attacken den Gegenangri­ff ausführen, um gegnerisch­e Rechner lahmzulege­n, von denen gerade Deutschlan­d angegriffe­n wird? Im Juni will sich der Bundessich­erheitsrat damit befassen, wie sich Deutschlan­d hier aufstellen will, und an welchen Stellen etwa das Grundgeset­z geändert werden muss, um überhaupt handeln zu können.

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