Wie Wahlen manipuliert werden
Die EU-Kommission warnt vor einer Beeinflussung der Europawahl.
BRÜSSEL Die Nervosität stieg vor der Bundestagswahl im Herbst 2017, und sie steigt auch jetzt wieder: Werden die Wahlen in Deutschland und Europa nach dem Beispiel der US-Präsidentschaftswahl massiv manipuliert? Nach der Bundestagswahl kam Entwarnung. Dennoch ist die Gefährdung greifbar. Es geht nach den jüngsten Umfragen in den meisten Ländern nicht mehr darum, welche der beiden großen Volksparteienfamilien mit ihren Konzepten vorne liegt. Es geht darum, ob rechtsnationalistische und linksextremistische Strömungen so stark werden, dass sich die europäische Einigung kaum noch steuern lässt. Das Projekt Europa könnte gestoppt oder sogar zerstört werden.
Eine solche massive Destabilisierung würde perfekt zur Kreml-Strategie passen, der seit Jahren mit einem Jahresbudget von geschätzt einer Milliarde Euro an einer alternativen Medienpräsenz in Westeuropa arbeitet. Die vor allem im Internet verfügbaren Abspielkanäle von Nachrichten, Kommentaren und Videos über politische Vorgänge in Deutschland finden Nutzerzahlen im fünf- und sechsstelligen Bereich. In manchen Kreisen ist das Misstrauen gegen alles, was von den verpönten „Mainstream-Medien“kommt, groß. Ausgerechnet die kremlfinanzierte, interessengeleitete und damit potenziell fremdbestimmte Darstellung findet in diesen Kreisen originellerweise eine höhere Glaubwürdigkeit.
Vor einem halben Jahrzehnt lösten Berichte über die Sankt Petersburger „Troll-Fabriken“noch Grusel im westeuropäischen Publikum aus. Es erregte die gutgläubigen Internetnutzer, dass dort und an anderen Stellen von russischen Putin-nahen Oligarchen eine Heerschar von Helfern dafür bezahlt wurde, Falschnachrichten in die westeuropäischen sozialen Netzwerke zu spülen. Es traf auf klare Ablehnung, dass dort künstlich angelegte Benutzerkonten automatisiert mit Stoff gefüttert wurden. Und es wuchs das Misstrauen, wenn auf diese Weise eine Welle nach der anderen erzeugt wurde, in der Tausende von (fiktiven) „Bürgern“ihrer Wut auf Politik und System freien Lauf ließen.
Inzwischen sind die Aktivitäten aus Sankt Petersburg nur noch einige von vielen. Die Brüsseler Beobachtungsstelle für Falschbehauptungen verzeichnete bislang Tausende von Treffern. Etwa wenn Islamisten die französische Kathedrale Notre-Dame in Brand gesteckt haben sollen. Wenn ein Foto einer zerstörten Bushaltestellen mit CDU-Sicherheit-Slogan darauf verbreitet und bald als Montage entlarvt wird. Oder warum Giftgas-Angriffe in Syrien als Falschmeldung entlarvt werden – mit denselben Bildern, die seit Jahren immer wieder als „neu“verkauft werden.
Fake News scheinen inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel zu sein. Zumeist verstärken sie die Weltsicht von Minderheiten, die in ihren Wahlabsichten ohnehin längst entschieden sind. Das breite Publikum habe, so Studien aus den USA an den Universitäten New York und Stanford zum Präsidentschaftswahlkampf 2016, kaum intensiven Kontakt zu Fake News gehabt. Theoretisch hätten Wähler zwischen 185 und 224 erfundene Geschichten in den Wahlkampfmonaten lesen können, tatsächlich aber wohl nur zehn wahrgenommen. Sie hätten sich ihre Meinung über die klassischen Medienkanäle gebildet.
Die wirklich gefährlichen Cyberattacken zur Wahlbeeinflussung lauern aber ohnehin unterhalb dieser Oberfläche. Es handelt sich um die Fähigkeit von Hackern, im staatlichen Auftrag die Infrastruktur Deutschlands anzugreifen und Krisensituationen durch das Schaffen von Chaos zu verstärken. Noch ringen Verteidigungs- und Innenministerium um die Federführung. Wer kann, wer darf, wer soll bei Attacken den Gegenangriff ausführen, um gegnerische Rechner lahmzulegen, von denen gerade Deutschland angegriffen wird? Im Juni will sich der Bundessicherheitsrat damit befassen, wie sich Deutschland hier aufstellen will, und an welchen Stellen etwa das Grundgesetz geändert werden muss, um überhaupt handeln zu können.