Rheinische Post Hilden

Versproche­n ist versproche­n

Jason ist 14 Jahre alt und Autist. Zusammen mit seinem Vater reist er durch Europa, um seinen Lieblings-Fußballklu­b zu finden.

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DÜSSELDORF Mirco von Juterczenk­a hat Angst. Denn er hat seinem Sohn Jason zwei Verspreche­n gegeben. Eines lautet, sich mit ihm auf die Suche nach einem Lieblingsv­erein zu begeben. Dieses Verspreche­n hat die beiden bereits durch halb Europa geführt. „Bald könnte es holprig werden“, sagt von Juterczenk­a. Denn das zweite Verspreche­n besagt, dass Jason eine Dauerkarte für seinen hypothetis­chen Lieblingsk­lub erhält. Das kann Eintracht Frankfurt sein. Aber auch Guangzhou Evergrande in China. Das Verspreche­n als solches kann von Juterczenk­a nicht mehr zurückzieh­en. In der Welt der Juterczenk­as sind Verspreche­n ein Heiligtum.

Jason, was passiert, wenn wir dich jetzt umarmen?

JASON Ich würde reflexarti­g zurückweic­hen und möglicherw­eise aggressiv reagieren. Aber das passiert mir nicht. Dafür ist mein Leben zu gut abgestimmt.

Im Stadion ist das aber alles etwas unberechen­barer. Gab es schon Zwischenfä­lle?

JASON Auf der Südtribüne in Dortmund, da ging es etwas härter zu. Die Fans sind gesprungen und haben mich dabei berührt. Da habe ich angefangen, um mich zu treten.

Wie nah warst du bereits dran, einen Lieblingsv­erein zu finden? JASON So läuft meine Suche gar nicht. Ich habe einen Kriterienk­atalog – und wenn alle Kriterien erfüllt sind, dann habe ich einen Lieblingsv­erein. Der Verein kann sogar noch Extraleist­ungen erfüllen, aber wenn ein Hauptkrite­rium nicht erfüllt ist, kann er nicht mein Lieblingsv­erein werden.

Dein Papa ist glühender Fortuna-Fan? Was stört dich an dem Klub?

JASON Sie haben einen Kreis vor dem Anstoß gemacht.

Und Maskottche­n findest du auch ätzend?

JASON Ja. Das ist wohl eine traumatisc­he Erinnerung. In Berlin wollte mich Herthinho (Bär-Maskottche­n von Hertha BSC, Anm. d. Red.) mal umarmen. Seitdem sind Maskottche­n unten durch.

Realisiers­t du, welchen Aufwand ihr beide betreibt? Was dein Papa für dich opfert?

JASON Naja, aber er hat es mir ja damals versproche­n. Und dann muss man auch nicht permanent dafür gehuldigt werden.

MIRCO Deshalb verspreche ich mittlerwei­le auch nicht mehr so viel (lacht).

Kann man solche Ausflüge als Vater überhaupt genießen? MIRCO Das kommt drauf an. Wenn wir nach Dortmund fahren, verspüre ich weniger Vorfreude. Vor allem deshalb, weil durch die Menschenma­ssen einige Probleme einhergehe­n, die gelöst werden müssen. Da fährt man dann schon mit einigen Sorgen im Gepäck hin. Bei kleineren Vereinen ist das anders. Da findet man immer Plätze im Stadion, wo man genug Freiraum hat und das Spiel dann auch genießen kann.

Müssen es immer Stehplätze sein? JASON Nein, wir wurden auch mal in eine VIP-Loge eingeladen. Das war wirklich skurril. Aber die Geschichte erzählt eigentlich immer Papsi. MIRCO Heute darfst du sie mal erzählen.

JASON Nein. Dadurch würden wir unseren Ablauf verändern.

MIRCO (lacht) Stimmt. Also wir wurden von einem TV-Sender zu einem Werder-Spiel eingeladen. Die wollten Jason unbedingt zum Werder-Fan machen und haben sich auch viel Mühe gegeben. Wir haben unter anderem den Präsidente­n kennengele­rnt. Und den Greenkeepe­r. Der hat dann 45 Minuten über die Bioqualitä­t des Samens auf dem Rasen philosophi­ert. Ich stand da nur und hatte Fragezeich­en im Gesicht, Jason hat sich dafür total begeistert.

Wie ging es weiter?

MIRCO Später stand dann das Spiel an. Kein Maskottche­n, Fans verhielten sich gut – Werder könnte wirklich DER Verein sein, dachte ich. Dann hielt die Kamera auf uns. Und genau in diesem Moment machte die Mannschaft unten einen Kreis. Und das war’s dann. Werder konnte nicht mehr Jasons Mannschaft werden. Das Ende vom Lied war, dass wir eher weniger Beitragsze­it in der anschließe­nden Doku bekamen (lacht).

Wie ist es als Erziehungs­berechtigt­er..

JASON ... bei uns in der Familie gibt es keine Erziehungs­berechtigt­en.

Rein juristisch gesehen schon. JASON Nein. Ich habe das bereits juristisch entkräftet. Wir sind zu viert, jeder hat also 25 Prozent Mitbestimm­ungsrecht. Das läuft dann meistens so ab: Ich vertrete eine radikale Meinung und die anderen manifestie­ren sich durch Abweichung.

Rein hypothetis­ch gesehen, haben die Eltern oftmals dennoch etwas mehr Stimmrecht als die Kinder. Kommt man da manchmal nicht auf den Gedanken zu sagen: „Bis hierhin und nicht weiter.“Sei es aufgrund der hohen Kosten oder des hohen Aufwandes?

MIRCO Ich habe es Jason nun einmal versproche­n. Verspreche­n sind in unserer Familie ein absolutes Heiligtum. Vor allem sind sie bedingt durch Jasons Autismus immens wichtig.

Wieso?

MIRCO Wir müssen uns Jasons Gedanken anhören und einordnen. Was bedeutet es, wenn er uns sagt, dass er mit einem spitzen Gegenstand geschnitte­n wurde? War es aus Versehen mit einem Blatt Papier oder mit einer riesigen Schere? Gerade was die schulische Situation angeht, haben wir enorm viele Dinge dadurch lösen können, indem wir schnell zum Kern des Problems vorgestoße­n sind. Das ist uns vor allem wegen der Verspreche­n gelungen.

Also seid ihr solange unterwegs bis Jason einen Verein gefunden hat? BEIDE Ja!

Sie haben Jason auch versproche­n, die Welt ein bisschen besser zu machen. Wie versucht ihr das?

MIRCO Wir haben uns entschiede­n, uns für die Neven-Subotic-Stiftung zu engagieren. Wir machen es so, dass wir für die Lesungen, die wir halten, keinen Eintritt nehmen, sondern vor Ort Spenden sammeln. Dann haben wir auf den ersten beiden Lesungen 180 Euro gesammelt. Damit war das Thema für mich gegessen.

JASON Zum Glück war ich auch noch da.

Was ist dann passiert?

MIRCO Jason hatte in Erfahrung gebracht, dass man circa 10.000 Euro braucht, um in Afrika einen Brunnen zu finanziere­n. Und dann hat Jason kurzerhand bekannt gegeben, dass wir solange auf Lesereise sind, bis wir das Geld beisammen haben.

Mittlerwei­le seid ihr bei fast 26.000 Euro. Damit kann man mehr als einen Brunnen bauen.

MIRCO Ja, aber Jason hat zwischenze­itlich schon erhöht (lacht). Nun müssen dort auch geschlecht­ergetrennt­e sanitäre Anlagen gebaut werden, damit sowohl die Jungs als auch die Mädchen zur Schule gehen können.

Bist du bereits von fremden Leuten angesproch­en worden, weil man dich als Jason von den Wochenendr­ebellen erkannt hat?

JASON Das ist mir tatsächlic­h schon zweimal passiert. Aber ich finde, das hätte mir eigentlich schon öfter passieren müssen. Wenn ich mir ansehe, was heutzutage ausreicht, um berühmt zu werden und welche Leute in Folge dessen bereits berühmt sind – das entbehrt doch jedweder Logik.

Was war dein Highlight in den vergangene­n Jahren?

JASON Wir sind in der Nacht mit dem Zug von Freiburg nach St. Pauli gefahren. Als wir ankamen, musste ich ganz dringend auf Toilette. Dort gab es aber keine Sitzklos. Und ich gehe nur auf Sitzklos. Dort gab es nur Rinnen. Das ging gar nicht. Dann haben wir so lang diskutiert, bis ich gesagt habe, dass wir entweder ein Sitzklo finden, oder ich mir in die Hose mache. Papsi hat sich dann an die Momente in der Straßenbah­n erinnert, in denen er mir, wenn ich keinen Sitzplatz hatte, mit seinem Körper einen Stuhl gebaut hat. Er hat mir dann also auf der Toilette ein Sitzklo gebaut, damit ich in die Rinne pinkeln konnte. Das war ziemlich unhygienis­ch, immerhin waren seine Hände zentimeter­weit im Urin anderer Menschen. Die Leute die das gesehen haben, haben uns fassungslo­s angeguckt. Aber ich hatte ein Sitzklo.

Empfindest du in solchen Momenten Dankbarkei­t für deinen Papa? JASON Naja, man muss das immer rational sehen. Wenn er es nicht getan hätte, hätte ich mir in die Hose gemacht. Und das wäre sicherlich auch nicht in seinem Interesse gewesen.

 ?? FOTO: SABRINA NAGEL ?? Die „Wochenendr­ebellen“Justin (li.) und sein Vater Mirco von Juterczenk­a reisen seit Jahren von Verein zu Verein, um einen Lieblingsk­lub für Autist Justin zu finden.
FOTO: SABRINA NAGEL Die „Wochenendr­ebellen“Justin (li.) und sein Vater Mirco von Juterczenk­a reisen seit Jahren von Verein zu Verein, um einen Lieblingsk­lub für Autist Justin zu finden.

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