In Samt und Seide
Lyon war als Stadt der Weber einst bekannt in ganz Europa. Noch heute bietet die französische Metropole viel Stoff für bunte Geschichten. Der Verein Soierie Vivante sorgt dafür, dass das Traditionshandwerk fortbesteht.
Darf man das: Einfach die angelehnte Türe aufdrücken, als sei man tatsächlich hier zu Hause und kein Besucher? Der geheime Gang führt zu einem lauschigen Innenhof mit Arkaden und einem sich gen Himmel windenden Treppenturm. Nach ein paar Schritten wieder eine Tür: Nun steht man auf einem ganz anderen Sträßchen der Altstadt. Gegenüber befindet sich der nächste Eingang. Und die nächste Überraschung? Und ja, man darf das: Viele der Trauboules, wie die Passagen in Lyon heißen, sind sogar im Stadtplan verzeichnet. Andere kennen bis heute nur Einheimische – es gibt nämlich viele Hundert. Heute sind sie nur Abkürzungen, um schnell von A nach B zu kommen. Früher nutzte man sie aber, um kostbare Ware geschützt durch die Stadt zu transportieren: Seide.
Den edlen Stoff hat Delphine Godefroy bei ihren Stadtführungen immer im Blick. „Der Reichtum der Stadt hing schließlich an unzähligen seidenen Fäden“, scherzt sie. „Vor fünf Jahrhunderten begann die Zeit, in der Lyon als Stadt der Seide in ganz Europa bekannt wurde.“Erzählt wird die wechselvolle Geschichte der Weberei deswegen im Musée des Tissus: Das Museum rühmt sich, mit mehr als drei Millionen Stoffmustern im Magazin die größte Textilkollektion der Welt zu besitzen.
Um die Ecke preisen Boutiquen Krawatten, Schals und Tücher stolz als „Made in Lyon“an. Tatsächlich produzieren viele bekannte Luxusmarken in den Fabriken vor den Toren der Stadt. Heute nutzt man edle Seide für modische Accessoires, manchmal auch für schicke Anzüge und Kleider. Doch früher schufteten die Seidenweber vor allem für Dekorateure. Als der Sonnenkönig Ludwig XIV. sein Schloss in Versailles mit gewebten Stoffen ausgestattet hatte, machten es ihm andere Kaiser, Könige und Kirchenfürsten sowie wohlhabende Bürger nach. Im 19. Jahrhundert erfand Joseph-Marie Jacquard, ein Weber aus Lyon, den nach ihm benannten programmierbaren Webstuhl – das Gewerbe erlebte einen Boom.
Mehr als 30.000 Seidenweber siedelten sich in Croix-Rousse an, dem neuen Stadtviertel auf einem Hügel zwischen den Flüssen Rhone und Saone. Für ihre Tapeten und Teppiche, Polsterbezüge und Vorhänge brauchten sie gut vier Meter hohe Webstühle – für derart große Maschinen war in den niedrigen Wohnungen der Altstadt schlichtweg kein Platz. Wenn bis heute aus manchen Fenstern ein Klackern, Knallen und Rattern ertönt, liegt das am Verein Soierie Vivante. Der betreibt zwei Ateliers, die immer noch in Betrieb sind. Hier erklärt Hélène Carleschi die Funktionsweise eines Webstuhls: Wie ein Pedal die Fäden anhebt, das Schiffchen mit einem Irrsinnstempo hindurch fährt, und dann der Kamm den Webfaden ans Gewebe schlägt. Statt Handwerkern tummeln sich in Croix-Rousse ansonsten aber die Hipster: Es ist das angesagteste Quartier in der Stadt.
Während die Traboules kein Geheimnis mehr sind, bietet Croix-Rousse manche Überraschung. „Die Leute denken, uns gibt es nicht mehr. Von wegen: Wir weben immer noch Seide, wie früher in Handarbeit“, sagt Gisèle Bardet. Die 57-Jährige sitzt mit ihren jungen Kollegen Nicolas Meunier und Sebastien Roche viele Monate, manchmal sogar Jahre an besonderen Stücken. Den Familienbetrieb Manufacture Prelle gibt es seit 1752.
Schlösser, Opernhäuser, Residenzen: Die Manufaktur hat schon viele Räume mit edlen Stoffen ausgestattet. Mal war Brokat in Mode, dann Faconné oder Samt. Wie oft sich die Designs seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verändert haben, sieht man bei einem Blick in die Folianten des Archivs. Mal sind es bunte Blumen, mal detailreich gestaltete Vögel, mal abstrakte geometrische Formen. In der Schatzkammer lagern noch immer alle Muster.
Manche Kreation lässt sich heute auch mit jenen modernen Maschinen weben, die hundert Meter am Tag schaffen. Doch für komplizierte Aufträge mit vielen Farbschattierungen und Motiven, die sich durch das Abhobeln der Seide vom Grundstoff abheben, setzen sich die Spezialisten der Manufaktur immer noch an die historischen Webstühle aus dem 19. Jahrhundert. Dann ist nicht Schnelligkeit gefragt, sondern die bestmögliche Qualität. Deswegen dauerte es auch ganze 23 Jahre, bis die Manufaktur Prelle nach den historischen Vorlagen jene Stoffe gewebt hatte, die heute das restaurierte Prunkschlafzimmer des Sonnenkönigs Ludwig XIV. im Schloss Versailles zieren. „Wenn es gut läuft“, lächelt Gisèle Bardet, „schafft man bei so einem Projekt zweieinhalb Zentimeter am Tag.“
Die Redaktion wurde von Only Lyon zu der Reise eingeladen.