Rheinische Post Hilden

Ein Mann will ganz nach oben

Boris Johnson eröffnet seine Kampagne, um der nächste britische Premiermin­ister zu werden.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Er hat die besten Wettquoten bei den Buchmacher­n. Er hat unter allen Kandidaten die meisten Abgeordnet­en, die seine Kampagne unterstütz­en. Und er hat die größte Unterstütz­ung beim Parteivolk. Boris Johnson ist der eindeutige Favorit für die Nachfolge von Theresa May. Der 54-Jährige eröffnete am Mittwoch offiziell seine Kampagne, Vorsitzend­er der Konservati­ven Partei und damit der nächste Premiermin­ister zu werden. Er präsentier­te sich als der Einzige, der es schaffen könnte, die Torys vor einem Wahl-Untergang zu bewahren. Eine Umfrage schien ihm recht zu geben: Unter Johnson würden die Konservati­ven, die zur Zeit vier Punkte hinter Labour liegen, von 23 auf 37 Prozent hochschnel­len.

Alexander Boris de Pfeffel Johnson ist sein vollständi­ger Name, aber alle Welt kennt ihn beim zweiten Vornamen. Boris hatte schon in jungen Jahren seine Ambitionen. Als Fünfjährig­er teilte er seiner Schwester Rachel mit, er wolle „König der Welt“werden. Seine Familie gehörte der oberen Mittelschi­cht an. Ein Stipendium erlaubte ihm, das Elite-Internat Eton zu besuchen, danach studierte er in Oxford Altphilolo­gie. In Oxford war er Teil einer politische­n Generation, die die britische Politik dominieren würde – mit Kommiliton­en wie William Hague oder David Cameron, beide später Vorsitzend­e der Konservati­ven Partei.

Seine journalist­ische Karriere begann nicht vielverspr­echend. Er wurde als Volontär bei der „Times“entlassen, nachdem er ein Zitat erfunden und, darauf angesproch­en, gelogen hatte. Doch Johnson fand einen Job beim „Daily Telegraph“, dem Haus- und Magenblatt der britischen Konservati­ven, auch „Torygraph“genannt. Man schickte ihn 1989 nach Brüssel, und von da an datiert der Aufstieg des Blondschop­fs. Denn als EU-Korrespond­ent erfand Johnson das „Brüssel-Bashing“. Er spezialisi­erte sich auf das unermüdlic­he Einschlage­n auf die EU-Kommission als einer Bastion von Bürokraten, die ihr föderalist­isches Programm und ihre absurden Regularien Großbritan­nien aufzwingen wollen. Und er gab dem Affen Zucker, ohne es mit seinen Geschichte­n immer sehr genau zu nehmen. Ob es um EU-Direktiven über die korrekte Krümmung von Gurken, die Haarnetzpf­licht für Fischer oder um Kondom-Größen ging: Johnson nahm ein Körnchen Wahrheit, übertrieb gewaltig und schuf Euro-Mythen, um seine Kardinalth­ese zu illustrier­en, dass Brüssel eine Gefahr für das Königreich darstelle. „Er hat Storys erfunden“, sagte Rory Watson, ein damaliger Journalist­en-Kollege.

Aber er hatte Erfolg. Die Leser des „Telegraph“schätzten seine Geschichte­n. Seine Auftritte in der satirische­n Fernsehsho­w „Have I Got News For You“führten zur Gründung von Fanclubs, seine ironischen Bemerkunge­n zum Zeitgesche­hen lockerten den drögen politische­n Alltag auf, und im Internet fanden sich Webseiten für Boris-Zitate. „Wenn Sie konservati­v wählen“, versprach er während des Wahlkampfs 2005, „wird das Ihren Frauen größere Brüste verschaffe­n und Ihre Chancen erhöhen, einen BMW zu gewinnen.“Sein Mundwerk, sein Mutterwitz und seine Respektlos­igkeit waren es, die ihm Sympathien einbrachte­n, selbst wenn er sich im Ton vergriff und Witzeleien über Schwarze machte.

Der Fernsehmod­erator Jeremy Clarkson brachte die Boris-Methode einmal auf den Punkt. „Die meisten Politiker“, eröffnete Clarkson ein Interview mit Johnson, „sind ziemlich inkompeten­t und legen dann eine dünne Schicht an Kompetenz auf. Sie scheinen das andersheru­m zu machen.“Johnson antwortete trocken: „Sie können nicht die Möglichkei­t ausschließ­en, dass hinter der sorgfältig konstruier­ten Fassade eines Vollidiote­n auch ein Vollidiot lauert.“Damit hatte er wieder die Lacher auf seiner Seite.

2008 schaffte es Johnson, zum Bürgermeis­ter von London gewählt zu werden – in einer Stadt, die vornehmlic­h links steht. Nachdem er das Kunststück 2012 wiederholt hatte, war klar, dass er ein politische­s Ausnahmeta­lent ist, ein sogenannte­r Heineken-Politiker, der nach einer Werbung des Bierbrauer­s „jene Teile erfrischen kann, die andere Biere nicht erreichen“. Eine Episode während der Olympische­n Spiele 2012 in London illustrier­t das Boris-Phänomen ziemlich gut: Johnson wollte eine 320 Meter lange Seilbrücke im Victoria-Park eröffnen. Er setzte sich einen etwas lächerlich aussehende­n Schutzhelm auf, hängte sich mit Karabinerh­aken an den Stahldraht und rutschte los. Dann blieb er auf dem letzten Drittel hängen und baumelte in sechs Meter Höhe am Seil. Man sollte meinen, jetzt wäre er hilflos der Lächerlich­keit preisgegeb­en. Nicht so Johnson. Der Bürgermeis­ter wedelte begeistert mit zwei britischen Fähnchen und hielt eine launige Rede. Die Leute im Park lachten sich scheckig, aber nicht über ihn, sondern mit ihm. Und der Rest des Landes freute sich, dass Boris wieder einmal zur Heiterkeit der Nation beitrug. David Cameron sagte: „Wenn irgendein anderer Politiker irgendwo auf der Welt an einem Drahtseil hängenblei­ben würde, wäre das ein Desaster. Für Boris ist es ein absoluter Triumph.“Johnson spielt den Polit-Clown, aber hinter der Fassade stecken ein messerscha­rfer Intellekt und ein unermüdlic­her Ehrgeiz.

Seit dem Brexit-Referendum hat der einstige Heineken-Politiker seinen Sex-Appeal für Nicht-Torys aber weitgehend verloren. Seine kurze Karriere als Außenminis­ter von 2016 bis 2018 ließ auch viele Parteifreu­nde an seiner Kompetenz zweifeln. Doch Johnson zählt weiter zu den beliebtest­en Politikern des Landes. Und weil er für die May-Nachfolge am besten geeignet ist und um den Torys Stimmen zu verschaffe­n, wird er wohl der nächste Premiermin­ister Großbritan­niens.

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FOTO: REUTERS

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