Rheinische Post Hilden

Atomaussti­eg reißt Klimaziele

Das nahende Ende der Kernkraft in Deutschlan­d hat die Gesellscha­ft befriedet. Doch die Empörung über zu geringe Fortschrit­te bei der CO2-Einsparung hat genau mit diesem Thema zu tun. Viele Länder bauen neue Meiler.

- VON GREGOR MAYNTZ

Die heute für den Klimaschut­z streikende­n Schüler waren zum großen Teil noch nicht geboren, als sich die Regierung 2002 mit guten Gefühlen darauf festlegte, dass Deutschlan­d im Jahr 2020 mindestens 40 Prozent weniger Treibhausg­ase produziere­n würde als 1990. So lang hin schien das damals noch zu sein. Als es noch sechs Jahre bis zum Zieldatum waren, kam noch ein kräftiger Schluck aus der Pulle guter Vorsätze dazu: Nun wollte Deutschlan­d bis 2030 mindestens 55 Prozent schaffen und bis 2040 mindestens 70 Prozent. Bis zum Erreichen der ersten Hürde dauert es nun kein Jahr mehr. Und längst steht fest: Deutschlan­d wird sie reißen.

Als Konsequenz verlangen die empörten Klimaschüt­zer in Deutschlan­d einen schnellere­n Ausstieg aus der Kohleverst­romung. Auf einen anderen Zusammenha­ng verweist die World Nuclear Associatio­n, die Lobbyorgan­isation der Kernenergi­eindustrie: Hätte Deutschlan­d in diesem Jahrzehnt statt der Kernkraftw­erke entspreche­nd viel Kapazität von Kohlekraft­werken stillgeleg­t, hätte das Land seine Klimaziele locker erreichen können. Vermutlich werden nächstes Jahr noch 66 Millionen Tonnen CO2 zu viel in die Umwelt gehen; mit mehr Kernkraft statt Kohle wären es mindestens 80 Millionen weniger gewesen.

Genau das war das Konzept im Wahlkampf 2009, als CDU, CSU und FDP den von Rot-Grün beschlosse­nen Atomaussti­eg in eine Laufzeitve­rlängerung umkehren wollten. Das Schlagwort hieß „Brückentec­hnologie“. Sie bestand aus drei Elementen: erneuerbar­e Energien ausbauen, keine neuen Atomkraftw­erke bauen, aber die schon gebauten etwas länger nutzen, damit vorrangig Kohlekraft­werke vom Netz gehen können, bis aus Wind, Sonne und Biogas mehr Strom produziert wird.

Damit gewann Schwarz-Gelb die

Wahl, so kam es in den Koalitions­vertrag, und so wurde es am 28. Oktober 2010 beschlosse­n. Die sieben älteren Reaktoren sollten noch acht Jahre länger Strom produziere­n, die zehn neueren noch 14 Jahre. Um diese Wende schnell hinzukrieg­en, verzichtet­e Schwarz-Gelb darauf, eine mühsame Verständig­ung mit den Bundesländ­ern zu organisier­en. Deshalb hagelte es Verfassung­sklagen. Die letzte wurde Anfang März 2011 beigelegt. Acht Tage später war die Welt aus deutscher Sicht eine andere.

Als die Fernsehbil­der berstende Mauern am Kernkraftw­erk in Fukushima zeigten, wusste Angela Merkel, die erste Physikerin im Kanzleramt, dass ihre Argumentat­ion gegen die Gefühle nicht mehr ankommen würde. Der damalige Umweltmini­ster Norbert Röttgen (CDU), fasste es in die Worte, dass die Welt erstmals erlebte, wie auch ein „klitzeklei­nes Restrisiko Realität“werden könne. Das gerade beschlosse­ne Gesetz wurde ausgesetzt und dann abermals gedreht: Nun kam der Atomaussti­eg noch schneller.

Von den damals 17 Meilern sind nur noch sieben am Netz. Ende des Jahres sind es noch sechs, Ende 2021 noch drei, und Ende 2022 wird sich Deutschlan­d von der Liste der Länder streichen, die auf die friedliche Nutzung der Kernenergi­e setzen. Wenn die deutsche Art der Energiepol­itik einem globalen Trend entspräche, wären die Debatten über Deutschlan­ds Scheitern bei den Klimaziele­n nicht so heftig. Fast flehentlic­h bat Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) vergangene Woche im Bundestag darum, doch endlich die „Geisterdeb­atte“über eine Renaissanc­e der Kernkraft zu beenden.

Doch sie sprach vor dem falschen Publikum. Bis auf die AfD und ein paar lieber nur hinter vorgehalte­ner Hand darüber theoretisi­erende Unions- und FDP-Abgeordnet­e will kaum einer im Parlament das Wort „Laufzeitve­rlängerung“in den Mund nehmen. Das sieht internatio­nal anders aus. Da geht es nicht darum, wie lange die 449 Atomkraftw­erke am Netz bleiben, sondern wann 54 weitere fertig gebaut sind. Und auch in Europa wird weniger über einen Ausstieg als einen weiteren Einstieg in die Kernkraft nachgedach­t, so etwa in Großbritan­nien, Polen, Finnland, Ungarn, Rumänien und Tschechien. China will seinen 45 Atomkraftw­erken sogar 43 weitere hinzuzufüg­en.

Das alles erhöht den Druck auf Deutschlan­d, das sich schließlic­h verpflicht­et hatte, zum EU-Klimaziel seinen Anteil zu leisten – und nun nicht liefert. Dabei hatten einige der parallel ergriffene­n Maßnahmen durchaus Erfolg. So der Vorsatz, den Strom effiziente­r einzusetze­n. Tatsächlic­h klappt das: Jahr für Jahr wird für die Produktion derselben Menge Güter ein Prozent weniger Strom benötigt. Das sollte den Gesamtstro­mverbrauch bis 2020 um zehn Prozent gegenüber 2008 senken. Doch der Wirtschaft­sboom kam dazwischen: Statt deutlich zu sinken, bleibt der Verbrauch nach der jüngsten Prognose der Energiewir­tschaft auf unveränder­t hohem Niveau. Auch diese für 2020 gesetzte Hürde wird Deutschlan­d reißen.

Schon zieht die konservati­ve Werteunion aus dem vom Klimaschut­z beherrscht­en Europawahl­kampf die Konsequenz und will wieder die „Meinungsfü­hrerschaft“beim Erreichen der Klimaziele übernehmen: die Kernkraftw­erke sollen länger laufen. Für einen Tag konnten sich die Freunde der Atomenergi­e sogar auf die prominente­ste Klimaschut­zaktivisti­n Greta Thunberg berufen. Die verwies Ende März bei Facebook auf den Weltklimar­at, wonach die Kernenergi­e Teil einer großen, neuen CO2-freien Energielös­ung sein könne. Die Reaktionen waren so heftig, dass sie schnell ein „Ich persönlich bin gegen Atomkraft“in den Vordergrun­d stellte. Diese sei zu gefährlich, zu teuer und zu zeitaufwen­dig. Das konnte die Irritation­en in Deutschlan­d immerhin dämpfen. Hier kommt freilich nächstes Jahr eine Formel zum Tragen: Wer A wie Atomaussti­eg sagt, muss sich derzeit noch auf B wie Betrübnis über das Scheitern bei Klimaziele­n einstellen.

Dem Weltklimar­at zufolge kann Atomkraft ein kleiner Teil einer großen, neuen CO2 -freien Energielös­ung sein

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