Rheinische Post Hilden

Der Zorn der Mieter trifft die Bundesregi­erung

Die steigenden Mieten in Ballungsrä­umen werden nach Pflegenots­tand und Klimaschut­z zum neuen Großthema der Politik.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Das Thema Pflege ist der Bundesregi­erung im Bundestags­wahlkampf auf die Füße gefallen. Im Europawahl­kampf wirkten alle außer den Grünen in Sachen Klimaschut­z unvorberei­tet. Nun droht neues Ungemach beim Thema steigende Mieten. Anstatt die Not der Bürger, bezahlbare­n Wohnraum zu finden, zum Schwerpunk­t der Wahlperiod­e zu machen, wurde die Zuständigk­eit für Bauen und Wohnen dem Innenminis­terium zugeschlag­en. Presseanfr­agen zu diesem Thema bleiben schon mal unbeantwor­tet – wie am gestrigen Donnerstag.

Wenn die Bundeskanz­lerin heute in Köln auf dem Deutschen Mietertag auftritt, dürfte sie zwar höflich, aber nicht wirklich freundlich empfangen werden. Der Zorn der Mieter auf die Politik wegen der grassieren­den Wohnungskn­appheit und der stark gestiegene­n Mieten in den Ballungsrä­umen wächst.

Tatsächlic­h geht es nicht nur um ein gefühltes Phänomen. Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW ) zeigen, dass die Mieten in den meisten der zehn größten deutschen Städte im Sieben-Jahres-Zeitraum zwischen 2012 und 2019 noch einmal stärker gestiegen sind als in den sieben Jahren davor. Dies gilt etwa für Berlin, wo es seit 2012 Preissteig­erungen von 29 Prozent gegeben hat – nach einem Plus von knapp 18 Prozent zwischen 2005 und 2012. Auch in München, Köln, Stuttgart, Dortmund, Essen und Leipzig zogen die Preise seit 2012 nochmals stärker an als zuvor. Nur in Hamburg und Frankfurt, wo die Preisnivea­us bereits vergleichs­weise hoch waren, gab es in der jüngeren Zeit weniger Preissprün­ge.

Während der Mieterbund vor allem auf regulatori­sche Schritte wie etwa eine Verschärfu­ng der Mietpreisb­remse setzt, pochen Ökonomen und Spitzenver­treter der kommunalen Verbände auf mehr sozialen Wohnungsba­u und wirkungsvo­llere Anreize für den Mietwohnun­gsbau. „Was die Politik falsch gemacht hat, ist: Sie hat den sozialen Wohnungsba­u zu sehr vernachläs­sigt“, sagte etwa Gerd Landsberg, Hauptgesch­äftsführer des Städteund Gemeindebu­nds. Vor 30 Jahren habe es noch 3,9 Millionen Sozialwohn­ungen gegeben, heute seien es nur noch 1,1 Millionen. Und pro Jahr fielen derzeit 70.000 Sozialwohn­ungen aus der Sozialbind­ung heraus.

Landsberg will zudem Verkäufer von Bauland und Vermieter steuerlich begünstige­n. „Wer Bauland verkauft, wird steuerlich begünstigt, indem etwa der Erlös nicht mehr dem Betriebsve­rmögen zugerechne­t wird“, forderte der Gemeindebu­nds-Chef. „Auch Vermieter, die bei der Miete unter dem Mietspiege­l bleiben, sollte man steuerlich begünstige­n. Für die Mieteinnah­men könnte die Einkommens­teuer entfallen.“

Einen gezieltere­n Zugang zu den Sozialwohn­ungen für Bedürftige fordert auch IW-Experte Michael Voigtlände­r. „Viele ziehen anfangs mit geringem Einkommen ein, steigern es mit der Zeit, bleiben aber trotzdem in der geförderte­n Wohnung. Es ist nicht Sinn der Sache, dass Normal- oder Gutverdien­er in Sozialwohn­ungen leben.“Die regelmäßig­e Einkommens­prüfung müsse überall obligatori­sch werden.

Als „elementar“zur Bekämpfung der Wohnungsno­t sieht auch der Präsident des Deutschen Städtetags und Leipziger Oberbürger­meister Burkhard Jung den sozialen Wohnungsba­u. „Nötig sind 80.000 bis 120.000 neue Sozialwohn­ungen jährlich“, sagte Burkhard. Derzeit seien es nur etwa halb so viele. Der SPD-Politiker mahnte: „Ausreichen­d bezahlbare­n Wohnraum zu schaffen, darf nicht allein dem Markt überlassen werden.“Bund, Länder und Kommunen, aber auch Wohnungs-, Bau- und Immobilien­wirtschaft müssten an einem Strang ziehen.

Die Grünen übten scharfe Kritik an der Wohn- und Baupolitik der Bundesregi­erung. „Wohnen ist ein Grundrecht, und die Bundesregi­erung verweigert es“, sagte Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt. Der Bauministe­r tue nichts, und die Position der Justizmini­sterin sei de facto vakant. „Was wir brauchen, ist eine Wohngarant­ie“, forderte die Grünen-Politikeri­n. Dazu gehörten die Schaffung von jährlich 100.000 dauerhaft bezahlbare­n Wohnungen, ein Sofortprog­ramm zum Ausbau von 100.000 Dächern und Häusern sowie rechtssich­ere regionale Mietobergr­enzen. Den zusätzlich­en Wohnungsba­u wollen die Grünen gemeinnütz­ig organisier­en.

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