„Die Fummler dürfen nicht hinten runterfallen“
Der U21-Nationaltrainer über den Spagat, bei der anstehenden EM erfolgreich zu sein und die Talentförderung nachhaltig zu verbessern.
FRANKFURT/M. Noch bis Sonntag gehört der Frauen-WM die ungeteilte Aufmerksamkeit der Fußball-Öffentlichkeit. Dann drängen sich die Männer wieder ins Bild. Mit der U21-EM in Italien und San Marino. Die deutsche Mannschaft ist Titelverteidiger, aber kein Favorit. Und Bundestrainer Stefan Kuntz (56) denkt eh über den Tellerrand eines Turniers hinaus. Er will daran arbeiten, dass die Talenteförderung des DFB zurück an die europäische Spitze rückt. Ein Gespräch über den Spagat zwischen konzeptioneller Neuausrichtung und dem Anspruch an ein erfolgreiches Turnier.
Herr Kuntz, 2017 haben Sie mit der U21 den EM-Titel geholt. Ist das Ziel nun die Titelverteidigung? KUNTZ Erstmal bin ich richtig heiß und freue mich total auf die EM. Ich finde aber, eine Titelverteidigung ist gar nicht möglich. Nicht, weil wir den Titel nicht holen können, sondern weil wir und auch die Konkurrenten mit einer ganz anderen Mannschaft, einem anderen Jahrgang antreten.
Was ist das Ziel?
KUNTZ Unsere Priorität ist das Überstehen der Gruppenphase und damit die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Und dann sehen wir, was noch geht. Die Konkurrenz ist sehr stark, zum Beispiel Serbien wird mit sehr vielen A-Nationalspielern antreten. Wir werden da taktisch sehr variabel sein müssen und einen guten Teamgeist und die richtige Einstellung brauchen. Die Jungs brennen darauf, dass es endlich losgeht.
Ist das heutige Team so stark wie das von 2017?
KUNTZ Das kann man nicht miteinander vergleichen. In Nadiem Amiri, Levin Öztunali, Waldemar Anton und Mo Dahoud sind aktuell vier Spieler aus dem damaligen Kader dabei, die ihre Erfahrungen sicher an den Rest weitergeben können. Wir haben eine ganz andere Dynamik in der Gruppe. Was wir aber weniger haben, sind Individualkünstler wie damals Serge Gnabry.
Die Franzosen und Engländer gelten aktuell als die besten Nationen in der Nachwuchsarbeit.
KUNTZ Wir haben gegen beide Mannschaften im Vorfeld Testspiele absolviert und da sehr gut ausgesehen (2:1 gegen England, 2:2 gegen Frankreich, d. Red.). Es gibt da momentan tatsächlich einen Hype um diese Länder, bei dem unsere Talente ins Hintertreffen geraten.
Ist das gerechtfertigt?
KUNTZ Individuell sind diese Nationen vielleicht tatsächlich besser besetzt, bei uns steht aber auch der Team-Gedanke mit im Vordergrund. Neben der individuellen Klasse brauchen die Spieler ein taktisches Verständnis und den richtigen Blick für das Spiel. Hier sind wir definitiv auf Augenhöhe.
Die deutsche Nachwuchsarbeit stand zuletzt in der Kritik.
KUNTZ Man darf sie aber auch nicht zu kritisch sehen. Natürlich ist dieses Thema nach dem Ausscheiden in der Vorrunde bei der WM 2018 der A-Nationalmannschaft in den Mittelpunkt gerückt, aber beim DFB stand dieses Thema schon vorher auf der Agenda. Mehr als ein Jahr zuvor wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, weil wir da bereits erkannt haben, dass es Handlungsbedarf gibt. An den konkreten Empfehlungen arbeitet die AG gerade.
Können Sie daraus schon etwas verraten?
KUNTZ Das werden wir zunächst intern behandeln. Aber klar ist, dass Veränderungen her müssen, um auf Dauer konkurrenzfähig zu bleiben.
Was muss sich ganz generell verbessern?
KUNTZ Das muss man im Gesamten betrachten, da möchte ich nicht so sehr ins Detail gehen. Es geht da um Themen wie Spielformen im Training, aber auch um den Turnierkalender und Anpassung von Wettbewerben. Die Termine müssten entzerrt werden. Und auch in der Trainerausbildung wird es Veränderungen geben.
Und in der direkten Förderung der Talente?
KUNTZ Da müssen wir die Spieler mehr individuell fördern, und zwar komplett. Wir dürfen uns nicht so früh zu stark auf nur wenige Inhalte konzentrieren und nicht auf alle Trends draufspringen, sondern ganzheitlich ausbilden und aktuelle Erkenntnisse in unsere Ausbildung immer wieder einfließen lassen. Worin liegt das Problem?
KUNTZ Es gibt bei der Talente-Förderung Themen, die man nicht beeinflussen kann. Es gibt beispielsweise Spätentwickler oder Spieler, die in einem Jahrgang später geboren sind. Diese sind kleiner und kommen oft nicht zum Zug, weil die anderen einfach körperlich stärker sind. Aber in diesen Jungs stecken oft die Fummler mit dem Milchgesicht. Die dürfen nicht hinten runterfallen, sondern wir müssen sie genauso entwickeln wie die größeren Spieler. Und manchmal muss man Talente auch aus ihrer gewohnten Position oder ihrer Komfortzone rausholen, damit sie sich weiter entwickeln können, davor scheuen sich noch zu viele. Damit ist allerdings nicht das familiäre Umfeld gemeint.
In dieser Generation spielen soziale Medien eine sehr wichtige Rolle. KUNTZ Ich bin wirklich froh, dass es das noch nicht gab, als ich Spieler war. Weil ich dann so viele Dinge nicht hätte machen können. Aber mir ist schon klar, dass das für viele wichtig ist, weil man durch die große Verbreitung mehr Popularität bekommt und dadurch auch Geld verdienen kann. Aber in den sozialen Netzwerken sind die Spieler Kunstobjekte. Wenn man die Jungs dann näher kennenlernt, merkt man, dass dieses Bild oft recht wenig mit ihrer tatsächlichen Persönlichkeit zu tun hat.
Also ist die heutige Generation nicht so problematisch wie sie oft gemacht wird?
KUNTZ Nein, überhaupt nicht. Sie ist genauso wissbegierig und fleißig wie vorherige Generationen. Der große Unterschied ist, dass die Spieler nun immer unter Beobachtung stehen. Sie haben deswegen sogar die Sehnsucht nach Vertrautheit, einem ruhigen, geborgenen Umfeld, und das bekommen wir bei der U21 sehr gut hin. Man merkt, wie die Jungs hier aufblühen.
Ist die U21 eine Wohlfühloase? KUNTZ Bei uns geht es nicht nur darum, dass sich alle wohlfühlen. Wir sind keine Feiergesellschaft, dieses Bild haben wir mit dem Titel 2017 auch widerlegt. Aber wir haben hier andere Gegebenheiten als im Verein oder der A-Nationalmannschaft, hier sind alle Spieler in etwa im gleichen Alter, haben oft die gleiche Menge an Erfahrungen. Das müssen wir auch ausnutzen. Bei der U21 können wir deswegen anders ansetzen. Hier sollen sich die Spieler ausprobieren und Fehler machen. Denn nur daraus lernt man. Sie müssen sich auf dem Spielfeld selbst ihre Lösungen erarbeiten und diese Erfahrungen mitnehmen.
Fühlen Sie sich wohl beim DFB, der zuletzt sehr in der Kritik war? KUNTZ Ja, das tue ich. Natürlich wurde der Verband in der jüngeren Vergangenheit kritisiert, und wir haben erkannt, dass Reformen nötig sind. Die Zusammenarbeit mit der DFL ist schon besser geworden, durch die aktuelle Doppelspitze und verschiedene gemeinsame Arbeitsgruppen .
Halten Sie Joachim Löw nach wie vor für den Richtigen als Bundestrainer?
KUNTZ Ja. Ich finde es zwar nicht gut, wenn man zu viel über andere redet, aber die Nationalmannschaft hat unter ihm viele erfolgreiche Jahre gehabt. Jogi hat nun nach dem Scheitern 2018 eine neue Herausforderung gesehen und sich dazu entschlossen, diese anzugehen. Das ist ein guter Charakterzug.
Auf der Vereinsebene gab es in den vergangenen Monaten auch sehr viele Trainer-Themen. Sehr viele Trainer werden ausgetauscht. Wie haben Sie das wahrgenommen? KUNTZ Das sind Einzelfälle, die man auch alle individuell betrachten muss. Was ich aber feststelle, ist, dass der öffentliche Druck auf die handelnden Personen so groß ist, dass sie öfter die Geduld verlieren. Man erkennt aber, dass Vereine mit einer einheitlichen Philosophie länger an ihren Trainern festhalten.