Als der Wagen nicht kam
In einer Welt, die in Massenwahn und Angstträumen dahinlebte, wo die diabolischen Propagandasätze ihre Schlagkraft meist gerade dadurch erhielten, dass es sich anscheinend um die Durchsetzung hoher Werte handelte, die in Wirklichkeit durch einen versteckten Tropfen Gift oder einfach durch häretische Verabsolutierung in tiefsten Unwert verwandelt wurden, war es Hilfe und Trost, zuverlässige Leute um sich zu haben zur Diskussion und Klärung des Geschehens in der Umwelt, die alle bisherige Wertordnung antastete. Dann trat von selbst für Männer, die eine christliche Gemeinschaftsverantwortung für ihre Nächsten und ihr Volk und zur Verteidigung des geistigen Erbes fühlten, die brennende Sorge auf, was geschehen könne und müsse, um wieder geistige Ordnung im Volk zu schaffen, für das mehr als je zuvor das Wort galt: „Mich erbarmt des Volkes.“Daraus ergab sich dann von selbst der Versuch einer eingehenden Analyse der trostlosen geistigen Lage und der Möglichkeiten für eine geistige und politische Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege. Ein solches Programm auszuarbeiten und eine Anzahl anständiger und tüchtiger Leute auf dieses zu verpflichten, war das Ziel. Die Unterlagen dafür sollten geschaffen werden, dass nach dem Zusammenbruch Hitlers den Alliierten eine verhandlungsfähige Regierung gegenübertreten konnte. Nicht der gewaltsame Umsturz des Hitlerregimes war der Zweck des Zusammenschlusses. Es bestand Klarheit darüber, dass der Zusammenbruch sicher sei, nicht nur wegen der verbrecherischen Bosheit des Systems, sondern ebenso sicher wegen der Unzulänglichkeit der
militärischen und wirtschaftlichen Machtmittel und des unsinnigen generalstabswidrigen Gebrauchs derselben. Für diesen Tag „X“sollte Vorsorge getroffen werden, damit dann für die vorläufige Übernahme der Macht durch das Militär und die zu bildende neue Reichsregierung klare Pläne für den inneren Wiederaufbau und die Verhandlungen mit den Alliierten vorlägen. Allmählich verschob sich dann im Laufe der Zeit das Bild. Es wurde nicht mehr nur über Neuordnung diskutiert, sondern die Anwendung von Gewalt trat in den Vordergrund.
Moltke und Yorck versuchten, alle in Betracht kommenden positiven Kräfte, die noch im Volk vorhanden waren, heranzuziehen zur Schaffung einer einheitlichen Meinungsgrundlage für den schweren Beginn, der dem Nationalsozialismus folgen musste. Nach der Auflösung der politischen Parteien und der Zersetzung aller natürlichen Gemeinschaften bis in die Familie hinein war als einzige einigermaßen intakte Gemeinschaft das christliche Kirchenvolk beider Konfessionen verblieben. Daneben erschienen in erster Linie als ansprechbar und zur Heranziehung erforderlich die Arbeiter, da ja die Bourgeoisie und besonders der Kleinbürger sowie der Bauer von Hitler am meisten beeinflusst und dienstbar gemacht worden waren. Dementsprechend suchten und fanden Moltke und Yorck ihre Kontakte bei überzeugten kirchlichen Protestanten und Katholiken sowie Arbeitervertretern und gerade solchen, die früher der sozialdemokratischen Partei angehört hatten. Das war damals ein kühner Schritt für zwei protestantische preußische Grafen, die aus einer so ganz anderen Tradition erwachsen waren, mit katholischen Bischöfen, Jesuiten und Sozialdemokraten freundschaftliche Gemeinschaft zu suchen, da es sich doch bei allen nach Ansicht der Vorfahren um „Reichsfeinde“handelte. Es ist echt Moltke’sche Selbstironie in großartiger Freiheit des Geistes, wenn er im Abschiedsbrief vom 10. Januar 1945 vor der Hinrichtung darüber scherzt, was er „Papi“im Himmel wohl sagen solle zur Beschwichtigung seines Zornes über die Zusammenarbeit mit den Jesuiten, mit der „Mami“auch wohl kaum einverstanden sein werde. Auch Freislers höllische Wut später im Prozess gegen Moltke richtete sich vorwiegend gegen dessen Umgang mit Bischöfen und Jesuiten: „Kein Deutscher kann doch einen Jesuiten auch nur mit der Feuerzange anfassen“. Man muss sich diese Atavismen ins Gedächtnis rufen, um zu würdigen, wie mutig dieser Schritt zur Zusammenarbeit war. Auch das Hitlerunwesen hat gute Folgen wie diese gezeitigt, und die heutige Christlich-Demokratische Union wäre gar nicht denkbar ohne die geistige Vorarbeit und die praktischen Kontakte, die durch den Kreisauer Kreis geschaffen wurden.
Das dort erarbeitete Gedankengut beschränkt sich nicht auf die konkreten staatlichen und politischen Gestaltungen. Vorab musste vielmehr ein geistiges Fundament für den Neubau gefunden werden. Die furchtbaren Folgen der falschen Lehren des Nationalsozialismus und dessen maßlose Willkür hatten es offenbar gemacht, dass zunächst eine richtige Wertordnung wiedergefunden werden musste. Diese war nicht erst durch Hitler zerstört worden. Sie war längst vorher erschüttert und eben dadurch der Nationalsozialismus möglich geworden. Das humanitär-liberale Denken des 19. Jahrhunderts ohne gewissensverpflichtende objektive Bindungen hatte nicht hingereicht, um das entstandene Grauen zu hindern. Es hatte sich gezeigt, dass der Mensch als Maß aller Dinge den Menschen nicht retten konnte. Ohne den Einbruch der Übernatur in die Welt ist diese verloren. Diesen Einbruch in die gnadenlose Verlorenheit der Welt – wie sie Agnostizismus und alle Ismen bis zu Sartre erkennen lassen – hat Gott durch den Erlösertod Christi und die Offenbarung vollzogen. Deshalb muss diese die Grundlage für alles menschliche Leben und Handeln bilden. Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso für alle Gemeinschaften, die Gesellschaft und den Staat. Die christliche Wertordnung ist also der Maßstab, an dem alles zu messen ist. Diese Wertordnung stellt die Übernatur über die Schöpfung und in dieser den Menschen als Ebenbild Gottes über die Materie und sonstige Kreatur. Der Mensch erreicht sein übernatürliches Ziel in den irdischen Gemeinschaften von der Familie aufwärts zu den größeren Gemeinschaften, die damit alle auf die Übernatur ausgerichtet werden und erst dadurch Wert und Würde erhalten.
Diese Katechismusthese war die Grundsünde wider den Staat und Volk zum Wertmaßstab setzenden Nationalsozialismus. Es klang wie ein Aufheulen der Hölle, als Freisler in den Volksgerichtshofsverfahren auf diese christliche Grundhaltung der Angeklagten stieß.
(Fortsetzung folgt)