Richtiges Essen, falsche Tonne
Lebensmittelverschwendung wird nicht dadurch verringert, dass Menschen das Essen wieder aus dem Müll des Supermarktes herausholen. Die meisten Lebensmittel werden ohnehin an anderer Stelle weggeworfen.
Jährlich landen in Deutschland 13 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Aufgebracht von dieser Zahl haben es sich selbst ernannte Lebensmittelretter zur Aufgabe gemacht, weggeworfenes Essen aus Müllcontainern vor Supermärkten zu bergen. Das hat jüngst wieder die Aufmerksamkeit der Politik erregt, dort gibt es zwei Ansätze: Die einen wollen das sogenannte Containern entkriminalisieren, wie der Hamburger Justizsenator Till Steffens (Grüne) und die rheinland-pfälzische Umwelt- und Ernährungsministerin Ulrike Höfken (Grüne). Die Mehrheit der Justizminister sprach sich kürzlich allerdings dafür aus, lieber dafür zu sorgen, dass es Supermärkte leichter haben, Lebensmittel zu spenden. Beide Vorschläge gehen allerdings am Problem vorbei, denn die meisten Lebensmittel werden nicht im Einzelhandel weggeworfen.
Von den viel zitierten 13 Millionen Tonnen stuft das Team um Gerold Hafner, Professor für Abfallwirtschaft und Abluft an der Universität Stuttgart und einer der Hauptverantwortlichen der Studie, acht Millionen Tonnen als unvermeidbar ein. Dazu gehören Lebensmittelabfälle wie etwa Knochen, Schwarten und Schalen. Von den übrigen sieben Millionen Tonnen vermeidbarer Lebensmittelabfälle entfallen der Studie zufolge nicht weniger als drei Millionen Tonnen auf die privaten Haushalte. Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und der Außer-Haus-Verzehr kommen zusammen auf 3,5 Millionen Tonnen. Der Handel kommt in der Studie nur auf 414.000 Tonnen – nicht einmal sechs Prozent der gesamten Lebensmittel, die in Deutschland vermeidbar im Müll landen. Dies ist nur ein weiterer Grund, den Fokus der Diskussion nicht auf die Müllcontainer der Supermärkte zu legen. Das größte Einsparpotenzial sieht Hafner beim Außer-Haus-Verzehr. „Hier können mit
vergleichsweise wenigen Maßnahmen viele Mahlzeiten beeinflusst werden“, erklärt er.
Zudem spenden bereits über 90 Prozent der großen Einzelhandelsketten wie Edeka, Rewe, Lidl, Aldi und Co. an die Tafeln – rund 260.000 Tonnen pro Jahr. Angaben von Aldi Nord zufolge spendeten 2017 sogar 99 Prozent aller Filialen an die Tafeln.
Menschen, die Lebensmittel in Müllcontainern suchen, sind keineswegs immer bedürftig oder obdachlos. Das Gegenteil ist der Fall: Bedürftige haben die Tafeln als Anlaufstelle. Die selbst ernannten Lebensmittelretter kommen dagegen aus allen Gesellschaftsschichten, sie organisieren sich zum Teil über Apps oder soziale Medien. Auf Internetseiten können Anhänger die „besten“Orte angeben wie etwa Supermärkte, die wegschauen und keine Anzeige erstatten. Ein prominentes Beispiel dafür ist aktuell das Bremer Kaufhaus Lestra. Dessen Geschäftsführung verkündete am Donnerstag: „Wir haben uns entschlossen, mit dem Thema offensiv umzugehen und das Containern bei uns nicht zu verfolgen.“Ob damit auch Straffreiheit einhergeht, ist keinesfalls sicher. In einem Fall in Bayern zu Beginn des Jahres hielt die Staatsanwaltschaft auch dann noch an der Klage gegen zwei junge Studentinnen fest, als der Supermarkt seine Anzeige längst fallengelassen hatte. Beide wurden unter Vorbehalt zu einer Geldbuße von je 225 Euro verurteilt.
Die Naivität, die hinter der Initiative des Kaufhauses Lestra steckt, zeigt sich schon in der Aussage des Geschäftsführers. Er sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Wir machen das jetzt einfach und hoffen, dass es gutgeht.“Das Kaufhaus will mit Schildern über die Haltbarkeit der Lebensmittel im Müll aufklären. Auch über Ablage- und Sortierflächen werde nachgedacht. Über mögliche negative Konsequenzen aber anscheinend nicht. Frank Waskow, Lebensmittelexperte der Verbraucherzentrale Frank Waskow Verbraucherzentrale NRW NRW, mahnt: „Findige Leute könnten auf die Idee kommen, die kostenlosen Lebensmittel illegal weiterzuverkaufen.“Rückverfolgbarkeit und Haftung wären völlig außen vor.
Vor einem anderen Szenario warnt ein Sprecher des NRW-Justizministeriums: „Erst hinten gucken gehen, ob es etwas umsonst gibt – das kann nicht im Sinne der Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung sein.“NRW stehe daher voll und ganz hinter der Entscheidung der Justizministerkonferenz.
Wie lange können Lebensmittel über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus verzehrt werden?* Bei allen Angaben gilt Verschärfen wolle man die Gesetze aber definitiv nicht.
Auch Christian Böttcher, Sprecher des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels, kann dem Vorstoß des Bremer Kaufhauses nichts abgewinnen: „Wenn man so liberal mit seinen Mülltonnen ist, warum sortiert man dann nicht gleich konsequent alles aus, was noch verzehrfähig ist?“
Sosehr die Verfechter des Containerns auch von der Unversehrtheit ihrer Lebensmittel überzeugt sind: Lebensmittel, die in der Tonne landen, stellen ein gravierendes Gesundheitsrisiko dar. Rechtlich gesehen hört das Lebensmittel sogar auf, Lebensmittel zu sein, sobald es weggeworfen wurde. Und das aus gutem Grund. In einem Container landen Lebensmittel aller Frische- und Zubereitungsstufen. Frisches Fleisch, Fisch, Geflügel landen dort ebenso wie Obst, Gemüse und Verpacktes. Wann welche Flüssigkeit wohin läuft, ist nicht nachzuverfolgen. Obst- und Gemüseverpackungen haben in der Regel eine gewisse Durchlässigkeit, damit die innenliegenden Lebensmittel nicht gären. Ob der Salat mit dem Tauwasser der Tiefkühlgarnelen in Kontakt kam, lässt sich an einem heißen Sommertag nach ein paar Stunden nicht mehr sagen.
Die Supermärkte dürften allerdings gar kein Interesse daran haben, mehr Lebensmittel wegzuwerfen als nötig. Denn jedes weggeworfene Lebensmittel kostet Geld. Nicht nur, dass mit dem Verkauf des Produkts kein Erlös erwirtschaftet wird. Auch das Entsorgungsunternehmen, das sich auf Lebensmittelabfälle spezialisiert hat, will zusätzlich bezahlt werden.
Nicht umsonst ist die Quote der Lebensmittel, die vom Supermarkt direkt zur Tafel wandern, so hoch. Und Tafeln dürfen, im Gegensatz zu Supermärkten, Lebensmittel auch nach Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums noch abgeben, solange sie diese nur einer gründlichen Prüfung unterziehen. Die Forderung der Justizminister, bestehende Hürden bei der Abgabe an Tafeln zu senken, ist so gesehen zwar gut, bringt angesichts der hohen Spendenquote aber auch nicht mehr viel.
„Findige Leute könnten auf die Idee kommen, die kostenlosen Lebensmittel zu verkaufen“