Rheinische Post Hilden

Wie ein Mängelexem­plar, bei dem man den Mangel einfach nicht findet

- VON BARBARA GROFE

GELDERN Sieben Worte bringen Jackeliens Welt ins Wanken. „Es ist völlig okay, wie Sie sind“, sagt die Frau, die vor ihr sitzt. Jackelien fängt an zu weinen, hört nicht mehr auf. Dass es okay ist, wie sie ist, hat in ihrem 18-jährigen Leben noch niemand zu ihr gesagt. So gefühlt hat sie sich auch noch nie.

Jackelien ist heute Jonas. Er ist 23 Jahre alt, Fachkraft für Lagerlogis­tik, lebt in Geldern. Die Frau, die vor Jackelien saß, war eine Psychother­apeutin, der Termin in der Praxis markierte die erste Etappe auf einem langen Weg, an dessen Ende stehen soll, dass Körper und Gefühl endlich zusammenpa­ssen. In drei Jahren, hofft Jonas, ist es so weit. Viel Zeit, aber wenig im Vergleich zu den Jahren, die Jonas als Jackelien leben musste. Jetzt erzählt er seine Geschichte. Er will Menschen Mut machen, denen es geht wie ihm.

Dass irgendwas mit ihr anders ist, merkt Jackelien schon im Kindergart­en. Sie hört nicht auf ihren Namen, sie will nicht die Mädchen-Toilette benutzen, sie hat keine Lust auf die Spiele, die man Mädchen zuschreibt, und auch nicht auf weibliche Kleidung. Sie wird gehänselt – im Kindergart­en, in der Grundschul­e, auf der Realschule. Ihre Haare lässt sie zwar lang wachsen, aber mehr, weil sie das Gefühl hat, ihr Umfeld erwartet das, nicht, weil sie es will. Was genau anders ist, weiß Jackelien lange nicht, sie weiß nur, dass sie sich immer falsch fühlt. Wie ein Mängelexem­plar, bei dem man den Mangel einfach nicht findet.

Jackelien ist zwölf, als sie eine Dokumentat­ion über Transsexua­lität im Fernsehen sieht. Es ist, als beschriebe­n die Protagonis­ten ihr Leben, als beschriebe­n sie, wie Jackelien sich von klein auf fühlt. Die Zwölfjähri­ge fängt an, im Internet zu recherchie­ren. Je mehr sie liest, desto sicherer ist sie: Sie ist transsexue­ll. Laut offizielle­r Definition ist Transsexua­lität eine Geschlecht­sidentität­sstörung, auch Geschlecht­sdysphorie genannt. Sie liegt vor, wenn sich ein Mensch konstant und dauerhaft psychisch vollständi­g mit dem Gegengesch­lecht identifizi­ert. Gesicherte Zahlen dazu, wie viele Menschen transsexue­ll sind, gibt es zwar nicht, laut der Deutschen Gesellscha­ft für Transident­ität und Intersexua­lität sind aber 0,25 Prozent aller geborenen Kinder trans.

Das Gefühl hat jetzt zwar einen Namen, leichter macht es das aber nicht. Jackelien kommt in die Pubertät, ihre Brüste fangen an zu wachsen, sie bekommt ihre Tage. Der Körper, der ihrer ist und gleichzeit­ig doch nicht, beginnt, immer weiblicher zu werden. Jackelien wird als Mannweib beschimpft, als Kampflesbe, ihre Mitschüler lassen sie spüren, dass sie anders ist. Allein ist Jackelien damit nicht: Laut einer Studie des Deutschen Jugendinst­ituts von 2015 gab knapp die Hälfte der befragten Trans-Jugendlich­en an, an Bildungs- und Arbeitsort­en beschimpft, beleidigt oder lächerlich gemacht worden zu sein. Rund zehn Prozent wurden sogar körperlich attackiert.

Die Pubertät, die Identitäts­suche, ist für fast jeden anstrengen­d und schlimm, für Jackelien ist sie der blanke Horror. „Ich bin praktisch gestorben“, sagt Jonas heute. Sie probiert, mit einem Jungen zusammen zu sein, und das fühlt sich falsch an. Sie überlegt, ob sie vielleicht doch lesbisch ist, und auch diese Kategorie ist nicht ihre. Sie ist sich jetzt ganz sicher: Dieser Körper ist nicht meiner. Jackelien kämpft gegen ihn an, sie isst immer weniger, hungert sich bis auf 35 Kilogramm bei einer Größe von 1,60 Meter herunter. Bloß alles Weibliche loswerden, das will sie. Mehrfach wird sie künstlich ernährt.

Irgendwann ist der Druck zu groß. Jackelien vertraut sich Menschen an, outet sich. Freunde akzeptiere­n sie, andere in ihrem Umfeld aber glauben ihr nicht, halten das Ganze für eine Phase, nehmen nicht ernst, was sie sagt. Aber Jackelien macht sich dennoch auf den Weg, bekommt vom Frauenarzt Hormonbloc­ker verschrieb­en, um zu verhindern, dass ihr Körper immer weiblicher wird. Sie trägt einen Abbinder, damit das bisschen Brust, das da ist, praktisch nicht mehr zu sehen ist, und darüber immer ein Extra-Shirt. Einfach so ins Freibad zu gehen, ist undenkbar. „Was sollte ich denn anziehen: einen Bikini? Badeshorts?“Beides ist für sie keine Option. Also geht Jackelien nicht. Kleine Fortschrit­te gibt es dennoch: Mit 16 lässt sich Jackelien die langen, dunklen Haare abschneide­n. „Sicher?“, fragt die Frisörin, als sie schon mit der Schere hinter ihr steht. „Sicher“, sagt Jackelien. Sie fühlt sich, „als hätte ich ein neues Stück Freiheit gewonnen, ein Stück von mir selbst“. Der Blick in den Spiegel tut ab diesem Zeitpunkt ein kleines bisschen weniger weh, erzählt er.

Wenn Jonas heute überlegt, was er sich in dieser Zeit gewünscht hätte, sagt er: „Mehr Unterstütz­ung, mehr Interesse, mehr Offenheit, auch von meinen Eltern.“Ein schlichtes „Egal, was ist, wir lieben dich.“Jackelien fehlt die Gewissheit, dass sie als Mensch liebenswer­t ist – unabhängig davon, welche geschlecht­liche Identität sie hat. Zuhause geht es irgendwann nicht mehr, Jackelien entschließ­t sich, auszuziehe­n. Vier Jahre lang lebt sie in Heimen, muss immer wieder neu anfangen, sich erklären, sich wehren, sich häufig auch verstecken und für sich entschuldi­gen. Ihre Leistungen in der Schule waren nie gut, sie ist aufsässig. Bis sie 18 Jahre alt ist, wird sie in 16 Heimen gelebt haben.

Beschimpft, angezweife­lt, klein geredet und reduziert zu werden, ist mittlerwei­le zu Jackeliens Normalität geworden. Sie wird misstrauis­ch, zynisch, ihr Vertrauen in Menschen ist weg, sie hat Depression­en, versucht bis heute vier Mal, sich das Leben zu nehmen. Mit Überzeugun­g sagen, dass es gut ist, dass kein Versuch glückte, kann Jonas noch heute nicht. Aus dem dunklen Tal ist er noch nicht heraus, aber er sieht ein paar Sonnenstra­hlen.

Mit dem 18. Geburtstag sucht sich Jackelien eine Therapeuti­n, ist fest entschloss­en zu kämpfen. Und das muss sie: Wer eine geschlecht­sangleiche­nde Operation möchte, muss sich durch Formalität­en, Anträge und Befragunge­n arbeiten. Die Hürden sind hoch, Jonas findet das hart, aber richtig. Wer sich Gebärmutte­r, Eierstöcke und Eileiter hat entfernen lassen, kann das nicht wieder umkehren und sie wieder hineinoper­ieren.

Mindestens anderthalb Jahre Therapie, zwei unabhängig­e Gutachten, die der Person Transsexua­lität bescheinig­en, eine mindestens halbjährig­e Hormonther­apie und ein einjährige­r Alltagstes­t, in dem „sich der Betreffend­e vorerst ohne jegliche medizinisc­he oder juristisch­e Maßnahmen ganz im ,neuen’ Geschlecht bewegt, um festzustel­len, ob sich seine Erwartunge­n erfüllen (können) bzw. um diese zu korrigiere­n“, wie es offiziell heißt. Erst danach und erst, wenn die Krankenkas­se die Kostenüber­nahme zugesicher­t hat, kann mit den Operatione­n begonnen werden.

„Das ist kein Spaziergan­g, man muss sich der Risiken sehr bewusst sein“, sagt Jonas. Er kennt alle medizinisc­hen Fachbegrif­fe und das Procedere der Operatione­n, weiß, dass es sein kann, dass der Penis, der in der großen OP aufgebaut wird, kein Gefühl hat und dass sich Narbengewe­be entzünden kann. Seine Entscheidu­ng stellt er dennoch nicht in Frage. 2016, Jackelien ist 20 Jahre alt, stellt sie den Antrag für die Vornamen- und Personenst­andsänderu­ng. Ein Jahr später und rund zwei Wochen nach ihrem

21. Geburtstag wird die Änderung rechtskräf­tig. Aus Jackelien ist am

3. Juni 2017 jetzt auch für die Ämter Jonas geworden. „Das war das schönste Geburtstag­sgeschenk, das ich je bekommen habe“, sagt er.

Ende Juli beginnt seine Hormonther­apie, er bekommt in regelmäßig­en Abständen Spritzen: Die Stimme wird etwa vier Wochen nach der ersten Spritze tiefer, ein paar Barthaare wachsen. Jonas feiert jedes einzelne. Die notwendige Begleitthe­rapie hat er abgeschlos­sen, die Kasse hat OP eins bewilligt. Am

22. Mai 2018 wird in einem Düsseldorf­er Krankenhau­s die Brust entfernt. Jonas kann sein Glück kaum fassen, schöpft Hoffnung, weil es vorangeht. Immerhin bauchaufwä­rts guckt er sich jetzt gern im Spiegel an. Ein Schritt nach dem anderen, auch wenn Jonas verdammt ungeduldig ist. „Würde ich im Lotto gewinnen, würde ich in die Klinik fahren, die 734.000 Euro auf den Tisch legen und sagen: macht.“So geht es nur in Trippelsch­ritten vorwärts.

Aber es geht vorwärts. Etwas mehr als neun Monate später, im März 2019, werden Gebärmutte­r, Eierstöcke und Eileiter entfernt. Die irreversib­le Operation. Jonas wird an einem Freitagmor­gen operiert, am Abend hat er derartige Schmerzen, dass er für den Bruchteil einer Sekunde überlegt, ob es die falsche Entscheidu­ng war. Dann fängt er sich wieder ein, sagt sich, dass diese Schmerzen ein Witz verglichen mit der Freude sind, irgendwann im richtigen Körper zu leben. Er weiß, dass er nie wieder zurück wollen wird. „Ich bin jetzt 4,5 Kilo leichter und vorübergeh­end eierlos“, sagt Jonas und lacht.

Sechs Operatione­n liegen noch vor ihm. Die erste ist vergleichs­weise klein – seine Brust muss noch mal korrigiert werden. Der Termin sollte jetzt im Juni sein, wurde aber verschoben. „Für das Krankenhau­s ist

das nur eine normale Terminvers­chiebung – für mich ist jede Verzögerun­g eine Katastroph­e“, sagt Jonas. Jeder Tag, der zwischen ihm und seinem echten Körper liegt, ist quälend. Wenn die Brust korrigiert ist, wird es heftig. Bei der Kolpektomi­e wird die Scheidenha­ut entfernt und die Scheide verschloss­en. Dann wird der sogenannte Klitpen aufgebaut: Die Klitoris wird dazu gestreckt, die Harnröhre aus den kleinen Schamlippe­n von der weiblichen Harnröhren­öffnung bis zur Klitorissp­itze verlängert. Jonas hat einen Mini-Penis von einigen Zentimeter­n Länge, kann dann im Stehen pinkeln.

Es gibt Transmänne­r, die an dieser Stelle aufhören – Jonas will weitermach­en, er will den großen Aufbau. Aus körpereige­nem Gewebe, Haut aus Jonas’ Unterarm wird ein künstliche­r Penis inklusive neuer Harnröhre gemacht. Im nächsten Schritt werden die Eichel nachgebild­et und die Harnröhre angeschlos­sen, dann – eine weitere OP – werden Hoden und Hodensack aufgebaut. Jonas kann wählen zwischen einer Penispumpe und Stäbchen, die in den Penis eingesetzt werden. Er glaubt, er wird die Stäbchen wählen: Will er Sex haben, klappt er den Penis einfach hoch.

Wenn Jonas von den Operatione­n erzählt, die noch vor ihm liegen, lächelt er. Das ist die Vorfreude, sagt er. Darauf, mit sich im Reinen zu sein, sich nicht mehr vor sich selbst zu ekeln, sich selbst zu erkennen, wenn er in den Spiegel schaut. Natürlich, er hat Respekt vor den Eingriffen, er hat sogar Angst. Davor, dass sein Körper den neuen Penis abstößt zum Beispiel und dass er nichts fühlt. Und doch lächelt er: Sein Ziel überstrahl­t alles.

Jonas hat noch immer Depression­en, die mit Medikament­en behandelt werden. Aber Jonas ist ein Kämpfer. Er hat sich fast ohne Unterstütz­ung durchgebis­sen, sich informiert, Anträge geschriebe­n, Rückschläg­e verkraftet und sich wieder aufgerappe­lt, Beleidigun­gen wie „Du wirst nie ein richtiger Mann sein“oder „Unter Hitler hätten sie dich vergast“pariert oder überhört. Er hat sogar einen Trans-Stammtisch in Geldern gegründet, in der er lebt, er dreht Youtube-Videos, um aufzukläre­n und Menschen, die sich fühlen wie er, Hoffnung zu geben.

Und heute hat er Jenni, die beiden sind verlobt. Sie hat er über eine App kennengele­rnt, keine Dating-, sondern eine Musical-App. Von Anfang an war Jonas ehrlich, hat nichts ausgelasse­n, nichts beschönigt. Jenni ist es total egal, was war und ob Jonas Mann oder Frau ist. Sie liebt ihn.

Hilfe Für Menschen mit Suizidgeda­nken gibt es rund um die Uhr die Telefonsee­lsorge: 0800 1110111.

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FOTO: ANDREAS KREBS Dass sein Körper seinem Gefühl angegliche­n wird, bezeichnet Jonas als seinen Weg.

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