Rheinische Post Hilden

Politisch, spirituell und etwas verrückt

In Dortmund beginnt der 37. Deutsche Evangelisc­he Kirchentag. Das Programm ist mit mehr als 2000 Veranstalt­ungen bunt gemischt.

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Kirchentag 2021 in Frankfurt am Main. Und derzeit sieht es auch nicht danach aus, als würde der diesjährig­e Kirchentag die in den letzten Jahren zum Standard gewordene Marke von 100.000 Dauerteiln­ehmern schaffen. Denn gerade die Kirchentag­sbesucher aus Westfalen und dem Rheinland, die bei auswärtige­n Ereignisse­n in großen Zahlen anreisen, haben in Dortmund ein Heimspiel: Viele von ihnen werden wohl zu Hause übernachte­n und nur als Tagesbesuc­her in die Ruhrgebiet­smetropole kommen. „Wir gehen davon aus, dass in diesem Jahr etwas mehr Tagesgäste und etwas weniger Dauerteiln­ehmer anwesend sein werden“, sagte Generalsek­retärin Julia Helmke kürzlich unserer Redaktion.

Zu den wichtigste­n Themen des Kirchentag­s zählt der Vertrauens­verlust in der Gesellscha­ft. Dass sich immer mehr Menschen gesellscha­ftlich ausgegrenz­t fühlen, wird auf zahlreiche­n Podien diskutiert. 30 Jahre nach dem Mauerfall debattiert beispielsw­eise Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) mit dem Meissner Theologen und Bürgerrech­tler Frank Richter und dem Dortmunder Oberbürger­meister Ulrich Sierau über die Frage: „Wie gerecht geht es zu in der Republik?“. Der Leiter der Recherchek­ooperation von Süddeutsch­er Zeitung, NDR und WDR, Georg Mascolo, hält einen Hauptvortr­ag zum Thema „Vertrauen verdienen“, und beschäftig­t sich mit der Situation des Journalism­us nach Relotius. Und die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, der frühere EKD-Ratsvorsit­zende Nikolaus Schneider und der Benediktin­erparter Anselm Grün diskutiere­n über „Vertrauen und Vertrauens­missbrauch“, und nehmen dabei besonders den sexuellen Missbrauch in der Kirche in den Blick.

Insgesamt stehen dem Kirchentag­sbesucher mehr als 2000 Veranstalt­ungen zur Auswahl. Manches ist hochpoliti­sch, anderes spirituell, und manches auch ein bisschen verrückt. Klar ist nur: Jeder, der nach Dortmund kommt, wird seinen ganz persönlich­en Kirchentag erleben. Das fängt schon am Morgen an, wo der geneigte Besucher die Qual der Wahl zwischen den Bibelarbei­tern hat: Geht der Tag am besten los mit der früheren Bischöfin Margot Käßmann, dem Journalist­en Giovanni di Lorenzo, dem griechisch-orthodoxen Metropolit­en Augoustino­s oder doch besser dem EKD-Ratsmitgli­ed und Juraprofes­sor Jacob Joussen?

Und wie geht es dann weiter? Lieber zum Podium über „Wahrheiten in Politik, Wissenscha­ft und Bibel“, zum Hauptvortr­ag über „Genomforsc­hung und künstliche Intelligen­z“oder doch besser in den Gottesdien­st, den man mit seinem Smartphone mitgestalt­en kann? Lieber zum Workshop „Eucharisti­sche Anbetung“- und sich hinterher fragen, ob das noch evangelisc­h war? Zum missionari­sch geprägten „Christusta­g“? Oder zu der im Vorfeld des Protestant­entreffens wohl am meisten diskutiert­en Veranstalt­ung, den Workshop „Vulven malen“im „Zentrum Geschlecht­erwelten“?

An vielen Stellen wird auch der Dortmunder Kirchentag genau so bunt und liebenswer­t chaotisch sein, wie es die evangelisc­he Kirche manchmal ist. „Beim Kirchentag wird nichts von oben herab verkündet“, sagt Generalsek­retärin Helmke. „Die Menschen nehmen teil, partizipie­ren, wollen ins Gespräch kommen.“Aber gilt das auch gerade für jene Wutbürger, die sich gesellscha­ftlich abgehängt fühlen? „Die Menschen, die zum Kirchentag kommen, sind im Schwerpunk­t sicher nicht die Abgehängte­n“, sagt Helmke. Es kämen eher die, die sich als Teil einer Gemeinscha­ft fühlen.

Laut Marktforsc­hung geht es allen Teilnehmen­den eines Kirchentag­es darum, Gemeinscha­ft zu finden und zu erleben. Doch der Kirchentag will es zumindest versuchen, auch mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die bei den letzten Wahlen vielleicht ihr Kreuz bei der AfD Julia Helmke Generalsek­retärin des Kirchentag­s gemacht haben. So findet in Dortmund erstmals ein so genanntes „Barcamp“statt. Es ist mit den Worten „Das soll doch noch gesagt werden dürfen!“überschrie­ben. „Bürger*innen mit Sorgen treffen auf besorgte Bürger*innen“, heißt es im knapp 600 Seiten starken Programmbu­ch dazu.

Die AfD allerdings ist beim Kirchentag im Unterschie­d zum Münsterane­r Katholiken­tag übrigens nicht eingeladen. Vertreter verschiede­ner Landtagsfr­aktionen haben sich darüber bereits beschwert, und das als „Ausgrenzun­g“kritisiert. Beim Kirchentag­spräsidium beißen sie damit freilich auf Granit. „Das sind Radikalins­kis“, sagte Kirchentag­spräsident Hans Leyendecke­r kurz und knapp vor kurzem unserer Redaktion.

Stattdesse­n bemüht sich der Kirchentag um die Konservati­ven, die bei früheren Protestant­entreffen eher am Rand standen: „Was ist noch konservati­v? Was ist schon rechtspopu­listisch?“ist ein Hauptpodiu­m überschrie­ben, auf dem die Ministerpr­äsidenten Winfried Kretschman­n (Grüne) und Markus Söder (CSU) mit dem Historiker Andreas Rödder debattiere­n werden. Rödder trete in einem neuen Buch für eine „offene Gesellscha­ft“ein, „die Grenzen zieht, ohne moralisch auszugrenz­en“, sagt Leyendecke­r. „Wir sollten den neuen Konservati­smus nicht mit billigem Populismus gleichsetz­en.“

„Beim Kirchentag wird nichts von oben herab verkündet“

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FOTO: DPA/MAURIZIO GAMBARINI Besucher auf der Festwiese des Kirchentag­s 2017 in Lutherstad­t Wittenberg.

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