Der lange Kampf indischer Frauen
In Indien hat Weiblichkeit viele Gesichter. In jeder Schicht werden der Frau andere Aufgaben zugewiesen – sie reichen von der Kinderbetreuung bis zur Wasserversorgung. Eine Geschichte über die Frauen, die sich den klassischen Rollenbildern widersetzen.
In einer Haltebucht vor der zentralen Metro-Station in Neu Delhi greift ein Taxifahrer nach einer Straßenhündin. Er zieht sie an den Vorderbeinen zu sich heran, wirft sie auf den Rücken. Sie soll stillhalten, damit ihre Jungen Milch trinken können. Die Hündin will sich aus seinem Griff befreien. Es gelingt ihr nicht.
Es ist nicht schön, solche Bilder aufzuschreiben. Prabha Mallya hat sie gemalt. Sie ist Illustratorin und Teil einer Gruppe von 16 Künstlerinnen aus Deutschland und Indien, die ein Buch über ihr Bild von Frauen in Indien veröffentlicht haben. Mallyas holzschnittartige Zeichnungen erzählen von einer Straßenhündin namens „Bitch“– zu Deutsch „Schlampe“–, die sich mit Fragen herumtreibt wie: Sag mir, wo ich hin soll? Wo ist dein BH? Bist du nicht zu alt für Sex? Es sind unangenehme Fragen. Fragen, über die niemand in der Öffentlichkeit einfach sprechen würde. Auch deswegen trägt das Buch den Titel „The elefant in the room“(Der Elefant im Raum).
Sie gibt Frauen eine Stimme
Urvashi Butalia ist keine Frau, die das Offensichtliche unausgesprochen lässt. Sie hat das Buch mit ihrem Verlag und einem deutschen Pendent herausgebracht. Das Verlagshaus liegt in einer kleinen, verwinkelten Gasse in Delhi und ähnelt einer Stadtbibliothek mit knautschigen Sesseln. Butalia zählt zu den großen Feministinnen des Landes, trägt ihr hüftlanges Haar offen und ist mit ihren 67 Jahren ergraut. Seit über zwei Dritteln ihres Lebens beschäftigt sie sich mit der Emanzipation der Frauen. Weiß, dass 94 Prozent der Ehen arrangiert sind. Erzählt, dass 20 Millionen Frauen sich trotz Volljährigkeit nicht bei den Wahlen registriert haben, weil dadurch ihr „Marktwert“sinkt, wenn sie noch nicht verheiratet sind.
In Indien heiratet man zum einen jung, zum anderen sieht die Tradition vor, dass die Eltern des Bräutigams von den Eltern der Braut horrende Mitgiften bekommen. Einer Studie des Bevölkerungsrats Indiens zufolge, wurden 2015 15,6 Millionen Mädchen abgetrieben. Eine andere Untersuchung in der britischen Fachzeitschrift „The Lancet Global Health“spricht davon, dass zwischen 2000 und 2005 jährlich bis zu 239.000 Mädchen nach der Geburt gestorben seien.
„Weibliche Föten werden gezielt abgetrieben, Mädchen als Babys getötet oder so schlecht versorgt, dass sie nicht überleben“, schreibt die Leiterin der SOS-Kinderdörfer in Asien in einem Bericht vergangenes Jahr. Bereits jetzt würden dem Land 63 Millionen Frauen fehlen, um zu einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis zu kommen.
Butalia spricht ernst über diese Zahlen. Allgemein wirkt sie nicht wie eine Frau, die zum Scherzen aufgelegt ist. Ihr Blick ist eindringlich – auch durch den schwarzen Kajal, der ihre Augen umrahmt. Manche Frauen würden sich nicht trauen, mit ihr an einem Tisch zu sitzen: „Unsere Hierarchien im Kastensystem verhindern es, dass es eine schichtübergreifende Frauenbewegung geben kann“, sagt sie. Und doch gebe es sie, die Emanzipation, aber in anderen Geschwindigkeiten und zu unterschiedlichen Belangen. Das dürfe man nicht vergessen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass in Indien alle 23 Minuten eine Frau vergewaltigt wird.
Eine Karte als Mahnmal
Supreet Singh ist vergewaltigt worden. Aus ihrer damaligen Hilflosigkeit hat die 47-Jährige jedoch Kraft geschöpft. 2014 hat sie eine Plattform gegründet, auf der Frauen über eine Onlinekarte ihre Erlebnisse sexueller Belästigung melden können. Über 12.000 Berichte sind in den vergangenen fünf Jahren auf der Karte von Safecity eingetragen worden. Jeder kann auf sie zugreifen, kann einen neuen Punkt, in unterschiedlichen Farben je nach Art der Belästigung anonym im Netz hinterlassen. Gemeldet werden können alle Belästigungen aus dem Zeitraum vom 31. Dezember 1969 bis heute. Trauriger Spitzenreiter ist Neu Delhi mit 4833 Fällen. Mumbai liegt inzwischen bei 2297 gemeldeten Belästigungen. Alle Daten gibt Singh in regelmäßigen Berichten an die Polizei weiter. Diese kann mit den Daten ihre Kontrollen an besonders gefährlichen Orten verschärfen.
Eine Herausforderung bei der schieren Größe der Millionenstädte. Allein in Mumbai gibt es zwischen den Betonbauten nach Bauart Brutalismus etliche Orte, die nachts nicht beleuchtet sind. Und das, obwohl es an Strom nicht mangelt, immerhin hängen die Leitungen zwischen den Häusern wie ein zerfleddertes Spinnennetz. Nur die tausend Greifvögel behalten den Überblick. Sie kreisen über der Stadt, entziehen sich dem Geruch nach Abwasser, Abgasen, Gewürzen und Vergorenem und dem Trubel aus hupenden Motorrollern, Garküchen und Autowerkstätten am Straßenrand und dem Menschenmeer aus bunten Saris.
Supreet Singh trägt meistens schwarz, und ihr ganzes Ohr ist mit Piercings durchsetzt. Geschieden ist sie und kinderlos. Während andere Inderinnen so etwas verschweigen, spricht Singh darüber mitten in einem Bahnabteil – laut und mit ausladenden Gesten. Eine Verkäuferin hängt an einem Fleischharken allerlei Glitzerzeugs in die Haltestangen unter der Decke. Singh spricht weiter. Von den Vergewaltigungen, der Betreuung von Opfern und der Notwendigkeit, sich zu wehren. Sie will, dass sich etwas ändert. Nicht nur an der Haltung der Männern, sondern ebenso an Denkmustern konservativer Frauen. Singh erinnert sich an Erzählungen von ihrer Geburt: „Als meine Großmutter erfahren hat, dass ich ein Mädchen bin, hat sie geweint. Nicht vor Freude.“
Zuständig für die Wasserversorgung
Der Wasseranschluss von Geeta Devi-Amirwar und ihrer Familie liegt zwar nicht im Haus, aber dafür direkt vor ihrer Tür. Erst seit Kurzem hat ihre Familie eine direkte Trinkwasserversorgung. Eine Besonderheit, hier auf dem Land in Rasoi, rund 400 Kilometer von Neu Delhi entfernt. Lediglich die Hälfte der Dorfbewohner hat einen solchen Anschluss. Bevor das Wasser zu Devi-Amirwar kam, musste sie täglich zwei Kilometer bis zum nächsten Brunnen laufen. In blechernen Kübeln balancierte sie das Wasser auf dem Kopf zu ihrem kleinen Häuschen, das auch in einem Freiluftmuseum stehen könnte: Lehmboden, offene Feuerstelle, die mit Kuhdung befeuert wird.
Die 45-Jährige ist stolz darauf, dass ihr Haus nun einen eigenen Wasseranschluss hat. Dafür hat sie monatelang gekämpft, zahlreiche Beschwerdebriefe an die Regierung geschickt. Voller Pathos erzählt sie ihre Geschichte. Ihr Mann steht währenddessen neben ihr – will sie immer wieder unterbrechen, bis sie eine ruckartige Bewegung mit dem Handgelenk macht, dann erst hält er inne. In seinem Gesicht steht das Missfallen darüber, dass seine Frau nun im Mittelpunkt steht.
Devi-Amirwar ist nicht die einzige Frau, die sich für die Wasserversorgung in ländlichen Regionen einsetzt. Gemeinsam mit rund 600 Frauen kämpft sie für bessere Verhältnisse. Denn die Dürre wird mit jedem Jahr schlimmer. Auch weil die Dorfbewohner ihre Felder jahrelang mit Grundwasser gewässert haben, ist der Spiegel stetig gesunken. Durch das Wasserschutzprojekt bei dem Devi-Amirwar mitwirkt, konnte auch alte Sammelbecken für Regenwasser wieder aufgebaut werden. Fragt man die Männer, warum sie sich nicht um die Wasserversorgung kümmern, antworten die meisten, dass Wasser die Sache der Frauen sei.
Aus NRW allein vor Ort
In Indien als Inderin allein unterwegs zu sein, dagegen entscheiden sich viele. Als Deutsche alleine in Indien zu reisen, dazu hat sich Helen Diederich entschlossen. Die 28-Jährige stammt gebürtig aus Mettmann und ist Gynäkologin. Drei Wochen lang hat sie das Land bereist und davon eine Woche an einer Klinik in Sittilingi in Südindien verbracht. Viel habe sie da über Nachhaltigkeit gelernt: „In Deutschland nutzen wir viel Plastikmaterial bei einer Geburt, in Indien hingegen werden Dinge aus wiederverwertbaren Rohstoffen wie Baumwolle verwendet. Sie lassen sich wieder sterilisieren.“
Die Räumlichkeiten für die Geburt fand Diederich jedoch „krass“, denn Frauen gebären hier auf einer blanken Metallbank. Sie hat dabei geholfen, täglich rund ein Kind auf die Welt zu holen. Auch von den männlichen Kollegen wurde sie respektiert. „Das lag auch daran, dass der Klinik ein gutes Miteinander wichtig ist“, sagt Diederich. So hätten sich beispielsweise jeden Morgen alle Mitarbeiter der Klinik zum gemeinsamen zehnminütigen Müllaufsammeln getroffen und so das Gelände isauber gehalten.
Ein idyllischer Ort, gelegen in einer sanften hügeligen Welt, wie Diederich es beschreibt. Auch Abtreibungen gab es keine, als sie vor Ort war. Allerdings wurde eine Woche nachdem sie die Klinik verlassen hat, eine Frau im Dorf vergewaltigt und ermordet. „Ich habe mich in Südindien meistens sehr sicher gefühlt“, sagt sie. Trotzdem hat das Ereignis einen faden Beigeschmack hinterlassen.
Indien ist ein Land, das von dem starken Gestaltungswillen seiner Frauen lebt. Frauen wie Aktivistin Supreet Singh, mit ihrem Projekt für sichere Städte. Frauen wie die Bäuerin Geeta Devi-Amirwar, die sich für Wasserversorgung auf dem Land einsetzt oder die Verlegerin Urvashi Butalia, die indischen Frauen eine Stimme gibt, indem sie ihre Bücher veröffentlicht. Sie alle begehren auf und setzen sich für Emanzipation ein.
Und doch darf man nicht vergessen: Sie sind einige Wenige und stammen aus unterschiedlichen Schichten. Blickt man auf die Zahlen von Abtreibungen weiblicher Föten und Kindstod von Mädchen, so liegt eine Änderung des Rollengefüges wohl in weiter Ferne. So trifft das traurige Bild der Illustratorin mit ihren Straßenhündinnen wohl auf das Problem zu. Denn solange sich die Frauen nicht geschlossen gegen Abtreibungen und für eine Gleichbehandlung der Geschlechter einsetzen, solange werden die meisten indischen Frauen auch ihren Männer folgen müssen – wie ein Hund seinem Herrn.