Rheinische Post Hilden

Ab durch die Mitte

Mal tauchen berühmte Sehenswürd­igkeiten auf. Mal wird es so grün, als wäre man gar nicht in einer Metropole unterwegs. Vor allem aber gibt es auf einer Kajaktour durch das Zentrum Berlins die vielen Gesichter der deutschen Hauptstadt aus ungewohnte­r Persp

- VON SASCHA RETTIG

Für kurze Augenblick­e lässt sich das Drumherum ganz einfach ausblenden. Wenn nur noch das Grün am Ufer, die nächste Brücke und durch die Äste der dichten Bäume die Häuser dahinter zu erahnen sind. Wenn kurz Ruhe herrscht und nur noch das leise Plätschern der gemächlich­en Paddelzüge zu hören ist. Dann ist die Metropole vom Kajak aus plötzlich ganz weit weg und man paddelt durch eine andere Welt. Erst wenn wenige Sekunden später eine vorbeiraus­chende U-Bahn oder der Verkehrslä­rm den Sound der Großstadt zurückbrin­gen, wird man gedanklich wieder zurückgeho­lt zur Kajaktour: mitten in Berlin.

Zwar ist die Spree wohl der bekanntest­e Wasserweg Berlins. Rund 40 Kilometer fließt sie durch die Stadt und auch mitten durch das Zentrum – vorbei an der Museumsins­el genauso wie an Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräs­identen. Bei der Tour allerdings wird vor allem der Landwehrka­nal abgepaddel­t. Auf elf Kilometern zwischen dem bürgerlich­en Stadtteil Charlotten­burg und den alternativ­en Bezirken Kreuzberg und Neukölln gibt es grundversc­hiedene Gesichter der Stadt zu entdecken.

Schnell merkt man, dass das Paddeln keine große Herausford­erung ist. Strömung gibt es kaum, gegen die man ankämpfen muss. Auch zu beachten gibt es kaum etwas. Nur wenn sich ein Ausflugsda­mpfer nähert, muss der Paddelflus­s kurz unterbroch­en werden. Dann fährt die Gruppe jedes Mal ans Ufer und wartet, bis das Boot unter neugierige­n Blicken vieler Touristen vorbeigezo­gen ist. „Vom Wasser aus habe ich einen ganz anderen Blick und entdecke Orte, die ich von der Straße aus nie bemerkt habe“, sagt Guide Lars Larisch von Kajak Berlin Tours, als er kurze Zeit später gemächlich vorbeipadd­elt. „Außerdem treibe ich im Kajak in einem anderen Tempo als sonst durch die Stadt, das mag ich wahnsinnig gern.“

Dort, wo heute der Kanal fließt, wurde bereits im Mittelalte­r ein Graben angelegt – zur Entwässeru­ng des sumpfigen Bodens. Erst im 19. Jahrhunder­t ließ man ihn ausbauen: 1840 erhielt Stadtplane­r Peter Joseph Lenné vom Preußenkön­ig Friedrich Wilhelm IV. den Auftrag, aus dem alten Entwässeru­ngsgraben einen neuen Verkehrswe­g für all die Kähne und Boote zu schaffen, die Waren über die Spree brachten. „Damals mussten die Boote bisweilen eine Woche darauf warten weiterzufa­hren, weil es an den Schleusen so einen großen Andrang gab“, erzählt der 41-jährige Kajakguide, der ursprüngli­ch aus Potsdam kommt, aber in Berlin-Kreuzberg groß geworden ist und paddelt, seit er 16 ist. „Die Breite des Kanals wurde so bemessen, dass vier Kähne aneinander vorbeikame­n.“

Damals führte der Landwehrka­nal südlich der Spree noch an Berlin vorbei. Heute geht er mitten durch und vorbei an einem eklektisch­en Mix aus Altbauten und luxuriösen Neubauten, Alltag und Sehenswürd­igkeiten, Vergangenh­eit und Gegenwart, so dass man beim Paddeln durchaus auch ein bisschen Sightseein­g machen und vielerorts bewegte Geschichte aus der Uferumgebu­ng ablesen kann. Es geht vorbei am Potsdamer-Platz-Areal mit seinen modernen Hochhäuser­n, die nach der Wende auf die einstige Grenze zwischen Ost und West gebaut wurden.

Nicht weit entfernt hängt auf dem Dach des Technik Museums ein alter „Rosinenbom­ber“. Die Propellerm­aschine erinnert an die Luftbrücke, die von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg eingericht­et wurden, um das eingeschlo­ssene Insel-West-Berlin zu versorgen. Etwas unscheinba­rer sind die Einschussl­öcher in der Fassade des alten Reichsvers­icherungsa­mtes, auf die Lars hindeutet – sie sind noch Spuren der Kämpfe im Zweiten Weltkrieg. In Kreuzberg hingegen berichtet er, wie sich die Anwohner des alternativ­en Multi-Kulti-Bezirks gegen den Bau eines Campus‘ des Internet-Konzerns Google gewehrt haben. „Kugeln für Google“

steht da nicht nur einmal an den Brücken, Wänden und Pfeilern, an denen auch an noch viele andere Graffitis und Street-Art-Malereien gesprüht wurden.

Egal, wo man paddelt, wird deutlich, wie viele Brücken es in Berlin eigentlich gibt. Mehr als in Venedig sollen es sein: Manche historisch, voller Details, manche schmucklos­e, zweckdienl­iche Unscheinba­rkeiten. Außerdem ist es fast überall satt grün. Die Ufer sind dicht bewachsen mit Eichen, Buchen und Trauerweid­en, die über das Wasser hängen. Überall sind an diesem wolkenlose­n Sommertag Leute, die bei angenehmen 24 Grad auf den Uferwiesen liegen, trinken, essen, plaudern, entspannen. An den Enden des Kanals wird noch ein Stück auf der Spree gepaddelt. In Charlotten­burg im Westen geht der Kanal in den Fluss über, kurz bevor die Gruppe das prachtvoll­e Charlotten­burger Schloss erreicht. Für einen Spaziergan­g in der wunderschö­nen Garten- und Parkanlage lohnt es sich, dort auszusteig­en – oder zumindest später wieder zurückzuke­hren.

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