Der freundliche Zauderer
Seit 14 Jahren führt Joachim Löw die wichtigste Mannschaft im deutschen Fußball. Die Dinge einfach geschehen zu lassen, gehört zum Geheimnis seines Erfolgs. Am Montag wird der Bundestrainer 60.
Es haben sich ja nun doch ein paar graue Strähnen ins früher so makellos schwarze Haupthaar verirrt. Vielleicht war Joachim Löws Großsponsor Nivea der naheliegenden Meinung, dass die bald 60 Jahre ihrer führenden Werbeikone ruhig mal sichtbar werden dürften. Und vielleicht hören damit auch die bösartigen Unterstellungen auf, der Bundestrainer verbringe mehr Zeit beim Haarfärben als auf dem Trainingsplatz – hochgerechnet aufs Jahr, versteht sich.
„Jogi“Löw wird am Montag tatsächlich 60, ein Alter, in dem so mancher an die Rente denkt, ein Datum, das zur ersten Lebensbilanz verpflichtet. Löw denkt bestimmt darüber nach, was er dem deutschen Fußball alles geschenkt hat: den badischen Superlativ („högschde Konzentration“), den zwei- bis dreifach mitgesprochenen Apostroph (scho‘ au‘) und, natürlich, die Fußball-Weltmeisterschaft 2014.
Der Titel von Rio de Janeiro, errungen durch ein 1:0 nach Verlängerung gegen Argentinien, ist der Moment, in dem der Fußballtrainer Löw sportliche Unsterblichkeit erlangte. Seither steht er in einer Reihe mit Sepp Herberger, dem Mann, der beim 3:2-Finalerfolg über die als unschlagbar geltenden Ungarn 1954 das Wunder von Bern vollbrachte, mit Helmut Schön, der 1974 in München das Team zum 2:1-Endspielsieg über die Niederlande führte, und mit Franz Beckenbauer, der nach dem 1:0 gegen Argentinien 1990 so wunderbar selbstvergessen und einsam über den Rasen des römischen Olympiastadions spazierte.
Löw hat sich in Rio nicht zum Spaziergang durchs legendäre Stadion Maracana aufgemacht. Aber er hat trotzdem eine große Begabung für die mediengerechte Inszenierung. Der besagte Pflegeprodukt-Hersteller hat das schnell erkannt, als Löw die Kameras am Spielfeldrand mit modischer Kleidung und festem Blick betörte, und lange bevor er am Strand von Campo Bahia in den brasilianischen Sonnenaufgang joggte – selbstverständlich auch in Anwesenheit eines Kamerateams. Der Bundestrainer war schon „Markenbotschafter“von Nivea, als nur besonders weitblickende Menschen ahnen konnten, welche Erfolge er mal einsammeln würde. 2008 war das, Löw ging bei der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz gerade in das erste Turnier als Cheftrainer.
Es ist ein kleines Wunder, dass es überhaupt so weit kam.
Denn Löws große Karriere als Fußballtrainer schien vorbei, ehe sie so richtig Fahrt aufgenommen hatte. Dabei war es gut losgegangen. In Stuttgart war der junge Löw 1996 vom Assistenten zum Chefcoach befördert worden, weil sein Vorgänger Rolf Fringer den hohen Ansprüchen des Klubchefs Gerhard Mayer-Vorfelder nicht mehr genügte. Im ersten Jahr holte Löw den DFB-Pokal, im zweiten Jahr qualifizierte er sich mit seinem Team für den Uefa-Cup. Für Mayer-Vorfelder genügte das nicht, Löw wurde entlassen und ging auf seine eigene Europa-Tournee.
Sie endete 2004 mit der Entlassung beim österreichischen Erstligisten Austria Wien. Es hätte das Ende der Laufbahn von Jogi Löw sein können.
Aber es kam anders. Auch das hatte mit Mayer-Vorfelder zu tun. Der Berufspolitiker war unterdessen zum DFB-Präsidenten aufgestiegen, und er hatte die ehrenvolle Aufgabe, den historischen Absturz der Nationalmannschaft ins tiefe Tal des Rumpelfußballs abzufangen. Eine findige Gruppe, die im Hintergrund vom ehemaligen Bundestrainer Berti Vogts geführt wurde, brachte den Wahl-Kalifornier Jürgen Klinsmann ins Amt des Bundestrainers. Und Klinsmann ließ keinen Stein auf dem anderen im längst renovierungsbedürftigen Gebäude DFB.
Die Nachwuchsausbildung wurde ebenso gründlich neu ausgerichtet wie der Trainerstab. Und hier kommt Löw erneut ins Spiel. Klinsmann, der aus enger Anschauung des US-Sports wusste, dass kein Chef ohne einen starken Stab von Assistenten Erfolg haben kann, erinnerte sich an seinen Trainerlehrgang in der Sportschule Hennef vier Jahre zuvor. Dort hatte er gemeinsam mit Löw die Schulbank gedrückt, und auch aus landsmannschaftlicher Nähe hatte sich offenbar ein Vertrauensverhältnis herausgebildet. Der Schwabe Klinsmann holte den Schwarzwälder Löw zum DFB. Das war gut für Klinsmann, der sich im Scheinwerferlicht ums Verkaufen einer neuen Fußballmarke kümmern konnte. Es war gut für den DFB, weil Löw mit Sachkenntnis und Feingefühl einen fußballerischen Umbruch steuerte, der letzten Endes zum sprichwörtlichen Sommermärchen bei der WM 2006 führte. Und es war gut für Löw, weil er jenseits eines hektischen Liga-Spielbetriebs seine Fähigkeiten zeigen konnte.
Dass er Klinsmann beerbte, als der ermattet von zwei Jahren Öffentlichkeitsarbeit in den heimischen Liegestuhl an der Pazifikküste sank, war nur noch eine logische Folge. Löw prägte nun eine Ära. Nur Herberger war länger der erste Trainer im Lande, wenn man bereit ist, die Reichstrainer-Jahre vor dem Krieg mit hinzuzurechnen. Seit 14 Jahren führt Löw die wichtigste Mannschaft im deutschen Fußball. Und er tut es von Anfang an ohne starke Worte, ohne öffentlichkeitswirksames Knurren oder kraftvolle Gesten.
Löw ist ein großer Moderator. Das liegt zum einen an seiner ausgeprägten Fähigkeit, Stimmungen zu spüren und ins Innenleben einer Mannschaft horchen zu können. Zum anderen liegt es an der wahrscheinlich eng damit verbundenen Abneigung, Entscheidungen zu treffen. Löw tut ungern weh. Das macht ihn im Umgang liebenswürdig, immer ein bisschen distanziert, stets höflich, aber selten bestimmt. Der Mann ist ein freundlicher Zauderer.
Das hat ihm, so ulkig es klingt, vieles leicht gemacht im Amt des obersten Fußballlehrers der Nation. Entscheidungsprozesse hat er oft bis zum Ende ausgesessen, bis die Dinge sich von selbst erledigt hatten – in diesem Talent ist er den Bundeskanzler(innen) mit der längsten Laufzeit sehr ähnlich.
Viele wesentliche Wendungen fielen ihm einfach in den Schoß. Der Abschied aus der Zeit der röhrenden Platzhirsche in der Nationalmannschaft, der Wechsel vom lauten Michael Ballack zum leisen Diplomaten Philipp Lahm in der Teamführung wurde ihm von der Mannschaft abgenommen. Die wichtigste taktische Änderung auf dem Weg zum WM-Titel, die Versetzung von Lahm vom Mittelfeld auf die rechte Abwehrseite, kam ebenfalls von führenden Spielern und deren Trainern in der Heimat.
Und die große Verjüngung, die nach dem blamablen Ausscheiden bei der WM 2018 in Russland mit angemessener Verspätung betrieben wurde, war in erster Linie ein Anliegen des Verbands. Als Löw sich einschaltete und mit einem völlig untypischen Machtwort in einer Aktion, für die das Wort bei Nacht und Nebel erfunden wurde, seine Weltmeister Thomas Müller, Jerome Boateng und Mats Hummels aus der DFB-Elf entsorgte, hatte das Züge einer späten Peinlichkeit.
Zuvor hatte Löw in der ihm so eigenen Gelassenheit einfach zugeschaut und die Dinge geschehen lassen. Das war ja häufig genug der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Es gibt nicht wenige, die dem ewigen Trainer seine Entrücktheit von den irdischen Dingen vorhalten. Aber sie treffen ihn damit nicht. Seinen Spielern ist die Haltung wahrscheinlich sogar lieb, für sie ist Beständigkeit eine Stütze.
Und weil der DFB selbst nach dem Absturz in Russland keine andere Idee zur Hand hatte, bleibt Löw die Lösung auch jener Probleme, die er selbst mit verursacht hat. Bei der Europameisterschaft im Sommer erlebt er das siebte Turnier als Cheftrainer – nur in Russland kam er nicht mindestens bis ins Halbfinale. Darin ist er besser als alle seine Vorgänger, und auch die Bilanz von 117 Siegen hat niemand vor ihm erreicht.
Davor kann man den Hut ziehen. Man kann aber auch schön böse sein wie der Freiburger Philosoph und freiberufliche Fußball-Experte Wolfram Eilenberger. Der fand schon vor vier Jahren, die Nationalmannschaft sei trotz Löw in sechs Turnieren hintereinander ins Halbfinale gekommen. Löw habe eben das unverschämte Glück, sich aus dem besten Spielerangebot aller Zeiten bedienen zu dürfen. Das ist eine kleine Unverschämtheit, die gekonnt unterschlägt, dass Löw sein (zugegeben: begabtes) Team mit den Jahren spielerisch und taktisch entwickelt hat. Ob es auf dem Höhepunkt 2014 nicht klüger gewesen wäre, aufzuhören, weil es ja nicht besser werden konnte, ist eine andere Frage.
Für Löw ist die Antwort darauf klar: Es gibt keinen schöneren Beruf als den des Bundestrainers. Er sichert ein ordentliches Gehalt (3,5 Millionen Euro im Jahr, heißt es), gut bemessene Freizeit und die Gelegenheit, zum Beispiel auf dem Werbemarkt tüchtig hinzuzuverdienen. Und vom Wohnsitz in Freiburg ist es ja nicht weit ins Bundesligastadion, das er so gern besucht. Früher aus dem vornehmen Stadtteil Wiehre war es nur ein Fußweg, heute muss der Bundestrainer zumindest vom Berg hinunter ins Tal. Aber er ist in freundlicher Gesellschaft, man lässt ihn auch zufrieden, wenn er im Altstadt-Café seinen unvermeidlichen Espresso schlürft, den ihm dienstbare Geister beim DFB bei jeder Pressekonferenz aufs Podium stellen.
Bei der Geburtstagsfeier gibt es wahrscheinlich auch andere Getränke. Und möglicherweise gibt es auch wieder eine Motto-Party. Vor zehn Jahren amüsierte sich die deutsche Fußballprominenz im 70er-Jahre-Look mit Schlaghosen und geschmacklosen Perücken zur Musik des Schlagersängers Dieter Thomas Kuhn. Vielleicht geht’s diesmal in die 80er mit Minipli, Stirnband und Areobic-Dress unter der Disco-Kugel. Und vielleicht kommt Löw als John Travolta. Das wär scho‘ au‘ stark. Samstag spielt dann wieder der SC Freiburg.