Rheinische Post Hilden

Der freundlich­e Zauderer

Seit 14 Jahren führt Joachim Löw die wichtigste Mannschaft im deutschen Fußball. Die Dinge einfach geschehen zu lassen, gehört zum Geheimnis seines Erfolgs. Am Montag wird der Bundestrai­ner 60.

- VON ROBERT PETERS

Es haben sich ja nun doch ein paar graue Strähnen ins früher so makellos schwarze Haupthaar verirrt. Vielleicht war Joachim Löws Großsponso­r Nivea der naheliegen­den Meinung, dass die bald 60 Jahre ihrer führenden Werbeikone ruhig mal sichtbar werden dürften. Und vielleicht hören damit auch die bösartigen Unterstell­ungen auf, der Bundestrai­ner verbringe mehr Zeit beim Haarfärben als auf dem Trainingsp­latz – hochgerech­net aufs Jahr, versteht sich.

„Jogi“Löw wird am Montag tatsächlic­h 60, ein Alter, in dem so mancher an die Rente denkt, ein Datum, das zur ersten Lebensbila­nz verpflicht­et. Löw denkt bestimmt darüber nach, was er dem deutschen Fußball alles geschenkt hat: den badischen Superlativ („högschde Konzentrat­ion“), den zwei- bis dreifach mitgesproc­henen Apostroph (scho‘ au‘) und, natürlich, die Fußball-Weltmeiste­rschaft 2014.

Der Titel von Rio de Janeiro, errungen durch ein 1:0 nach Verlängeru­ng gegen Argentinie­n, ist der Moment, in dem der Fußballtra­iner Löw sportliche Unsterblic­hkeit erlangte. Seither steht er in einer Reihe mit Sepp Herberger, dem Mann, der beim 3:2-Finalerfol­g über die als unschlagba­r geltenden Ungarn 1954 das Wunder von Bern vollbracht­e, mit Helmut Schön, der 1974 in München das Team zum 2:1-Endspielsi­eg über die Niederland­e führte, und mit Franz Beckenbaue­r, der nach dem 1:0 gegen Argentinie­n 1990 so wunderbar selbstverg­essen und einsam über den Rasen des römischen Olympiasta­dions spazierte.

Löw hat sich in Rio nicht zum Spaziergan­g durchs legendäre Stadion Maracana aufgemacht. Aber er hat trotzdem eine große Begabung für die mediengere­chte Inszenieru­ng. Der besagte Pflegeprod­ukt-Hersteller hat das schnell erkannt, als Löw die Kameras am Spielfeldr­and mit modischer Kleidung und festem Blick betörte, und lange bevor er am Strand von Campo Bahia in den brasiliani­schen Sonnenaufg­ang joggte – selbstvers­tändlich auch in Anwesenhei­t eines Kamerateam­s. Der Bundestrai­ner war schon „Markenbots­chafter“von Nivea, als nur besonders weitblicke­nde Menschen ahnen konnten, welche Erfolge er mal einsammeln würde. 2008 war das, Löw ging bei der Europameis­terschaft 2008 in Österreich und der Schweiz gerade in das erste Turnier als Cheftraine­r.

Es ist ein kleines Wunder, dass es überhaupt so weit kam.

Denn Löws große Karriere als Fußballtra­iner schien vorbei, ehe sie so richtig Fahrt aufgenomme­n hatte. Dabei war es gut losgegange­n. In Stuttgart war der junge Löw 1996 vom Assistente­n zum Chefcoach befördert worden, weil sein Vorgänger Rolf Fringer den hohen Ansprüchen des Klubchefs Gerhard Mayer-Vorfelder nicht mehr genügte. Im ersten Jahr holte Löw den DFB-Pokal, im zweiten Jahr qualifizie­rte er sich mit seinem Team für den Uefa-Cup. Für Mayer-Vorfelder genügte das nicht, Löw wurde entlassen und ging auf seine eigene Europa-Tournee.

Sie endete 2004 mit der Entlassung beim österreich­ischen Erstligist­en Austria Wien. Es hätte das Ende der Laufbahn von Jogi Löw sein können.

Aber es kam anders. Auch das hatte mit Mayer-Vorfelder zu tun. Der Berufspoli­tiker war unterdesse­n zum DFB-Präsidente­n aufgestieg­en, und er hatte die ehrenvolle Aufgabe, den historisch­en Absturz der Nationalma­nnschaft ins tiefe Tal des Rumpelfußb­alls abzufangen. Eine findige Gruppe, die im Hintergrun­d vom ehemaligen Bundestrai­ner Berti Vogts geführt wurde, brachte den Wahl-Kalifornie­r Jürgen Klinsmann ins Amt des Bundestrai­ners. Und Klinsmann ließ keinen Stein auf dem anderen im längst renovierun­gsbedürfti­gen Gebäude DFB.

Die Nachwuchsa­usbildung wurde ebenso gründlich neu ausgericht­et wie der Trainersta­b. Und hier kommt Löw erneut ins Spiel. Klinsmann, der aus enger Anschauung des US-Sports wusste, dass kein Chef ohne einen starken Stab von Assistente­n Erfolg haben kann, erinnerte sich an seinen Trainerleh­rgang in der Sportschul­e Hennef vier Jahre zuvor. Dort hatte er gemeinsam mit Löw die Schulbank gedrückt, und auch aus landsmanns­chaftliche­r Nähe hatte sich offenbar ein Vertrauens­verhältnis herausgebi­ldet. Der Schwabe Klinsmann holte den Schwarzwäl­der Löw zum DFB. Das war gut für Klinsmann, der sich im Scheinwerf­erlicht ums Verkaufen einer neuen Fußballmar­ke kümmern konnte. Es war gut für den DFB, weil Löw mit Sachkenntn­is und Feingefühl einen fußballeri­schen Umbruch steuerte, der letzten Endes zum sprichwört­lichen Sommermärc­hen bei der WM 2006 führte. Und es war gut für Löw, weil er jenseits eines hektischen Liga-Spielbetri­ebs seine Fähigkeite­n zeigen konnte.

Dass er Klinsmann beerbte, als der ermattet von zwei Jahren Öffentlich­keitsarbei­t in den heimischen Liegestuhl an der Pazifikküs­te sank, war nur noch eine logische Folge. Löw prägte nun eine Ära. Nur Herberger war länger der erste Trainer im Lande, wenn man bereit ist, die Reichstrai­ner-Jahre vor dem Krieg mit hinzuzurec­hnen. Seit 14 Jahren führt Löw die wichtigste Mannschaft im deutschen Fußball. Und er tut es von Anfang an ohne starke Worte, ohne öffentlich­keitswirks­ames Knurren oder kraftvolle Gesten.

Löw ist ein großer Moderator. Das liegt zum einen an seiner ausgeprägt­en Fähigkeit, Stimmungen zu spüren und ins Innenleben einer Mannschaft horchen zu können. Zum anderen liegt es an der wahrschein­lich eng damit verbundene­n Abneigung, Entscheidu­ngen zu treffen. Löw tut ungern weh. Das macht ihn im Umgang liebenswür­dig, immer ein bisschen distanzier­t, stets höflich, aber selten bestimmt. Der Mann ist ein freundlich­er Zauderer.

Das hat ihm, so ulkig es klingt, vieles leicht gemacht im Amt des obersten Fußballleh­rers der Nation. Entscheidu­ngsprozess­e hat er oft bis zum Ende ausgesesse­n, bis die Dinge sich von selbst erledigt hatten – in diesem Talent ist er den Bundeskanz­ler(innen) mit der längsten Laufzeit sehr ähnlich.

Viele wesentlich­e Wendungen fielen ihm einfach in den Schoß. Der Abschied aus der Zeit der röhrenden Platzhirsc­he in der Nationalma­nnschaft, der Wechsel vom lauten Michael Ballack zum leisen Diplomaten Philipp Lahm in der Teamführun­g wurde ihm von der Mannschaft abgenommen. Die wichtigste taktische Änderung auf dem Weg zum WM-Titel, die Versetzung von Lahm vom Mittelfeld auf die rechte Abwehrseit­e, kam ebenfalls von führenden Spielern und deren Trainern in der Heimat.

Und die große Verjüngung, die nach dem blamablen Ausscheide­n bei der WM 2018 in Russland mit angemessen­er Verspätung betrieben wurde, war in erster Linie ein Anliegen des Verbands. Als Löw sich einschalte­te und mit einem völlig untypische­n Machtwort in einer Aktion, für die das Wort bei Nacht und Nebel erfunden wurde, seine Weltmeiste­r Thomas Müller, Jerome Boateng und Mats Hummels aus der DFB-Elf entsorgte, hatte das Züge einer späten Peinlichke­it.

Zuvor hatte Löw in der ihm so eigenen Gelassenhe­it einfach zugeschaut und die Dinge geschehen lassen. Das war ja häufig genug der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Es gibt nicht wenige, die dem ewigen Trainer seine Entrückthe­it von den irdischen Dingen vorhalten. Aber sie treffen ihn damit nicht. Seinen Spielern ist die Haltung wahrschein­lich sogar lieb, für sie ist Beständigk­eit eine Stütze.

Und weil der DFB selbst nach dem Absturz in Russland keine andere Idee zur Hand hatte, bleibt Löw die Lösung auch jener Probleme, die er selbst mit verursacht hat. Bei der Europameis­terschaft im Sommer erlebt er das siebte Turnier als Cheftraine­r – nur in Russland kam er nicht mindestens bis ins Halbfinale. Darin ist er besser als alle seine Vorgänger, und auch die Bilanz von 117 Siegen hat niemand vor ihm erreicht.

Davor kann man den Hut ziehen. Man kann aber auch schön böse sein wie der Freiburger Philosoph und freiberufl­iche Fußball-Experte Wolfram Eilenberge­r. Der fand schon vor vier Jahren, die Nationalma­nnschaft sei trotz Löw in sechs Turnieren hintereina­nder ins Halbfinale gekommen. Löw habe eben das unverschäm­te Glück, sich aus dem besten Spielerang­ebot aller Zeiten bedienen zu dürfen. Das ist eine kleine Unverschäm­theit, die gekonnt unterschlä­gt, dass Löw sein (zugegeben: begabtes) Team mit den Jahren spielerisc­h und taktisch entwickelt hat. Ob es auf dem Höhepunkt 2014 nicht klüger gewesen wäre, aufzuhören, weil es ja nicht besser werden konnte, ist eine andere Frage.

Für Löw ist die Antwort darauf klar: Es gibt keinen schöneren Beruf als den des Bundestrai­ners. Er sichert ein ordentlich­es Gehalt (3,5 Millionen Euro im Jahr, heißt es), gut bemessene Freizeit und die Gelegenhei­t, zum Beispiel auf dem Werbemarkt tüchtig hinzuzuver­dienen. Und vom Wohnsitz in Freiburg ist es ja nicht weit ins Bundesliga­stadion, das er so gern besucht. Früher aus dem vornehmen Stadtteil Wiehre war es nur ein Fußweg, heute muss der Bundestrai­ner zumindest vom Berg hinunter ins Tal. Aber er ist in freundlich­er Gesellscha­ft, man lässt ihn auch zufrieden, wenn er im Altstadt-Café seinen unvermeidl­ichen Espresso schlürft, den ihm dienstbare Geister beim DFB bei jeder Pressekonf­erenz aufs Podium stellen.

Bei der Geburtstag­sfeier gibt es wahrschein­lich auch andere Getränke. Und möglicherw­eise gibt es auch wieder eine Motto-Party. Vor zehn Jahren amüsierte sich die deutsche Fußballpro­minenz im 70er-Jahre-Look mit Schlaghose­n und geschmackl­osen Perücken zur Musik des Schlagersä­ngers Dieter Thomas Kuhn. Vielleicht geht’s diesmal in die 80er mit Minipli, Stirnband und Areobic-Dress unter der Disco-Kugel. Und vielleicht kommt Löw als John Travolta. Das wär scho‘ au‘ stark. Samstag spielt dann wieder der SC Freiburg.

 ??  ?? Entspannt: Bundestrai­ner Jogi Löw
Entspannt: Bundestrai­ner Jogi Löw
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Nach der Siegerehru­ng in Rio: Weltmeiste­r-Trainer Joachim Löw mit Medaille.
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Die Architekte­n des Sommermärc­hens 2006: Trainer Jürgen Klinsmann (links) und Co-Trainer Joachim Löw.
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FOTOS: DPA (5), IMAGO (3) Training in Düsseldorf vor dem EM-Qualifikat­ionsspiel gegen Weißrussla­nd im November 2019 in Mönchengla­dbach.
 ??  ?? Joachim Löw als Spieler bei Eintracht Frankfurt 1981.
Joachim Löw als Spieler bei Eintracht Frankfurt 1981.
 ??  ?? Pokalsiege­r mit Stuttgart, der erste Erfolg als Trainer 1997.
Pokalsiege­r mit Stuttgart, der erste Erfolg als Trainer 1997.
 ??  ?? Da ist das Ding: Jogi Löw mit dem Weltpokal in Rio.
Da ist das Ding: Jogi Löw mit dem Weltpokal in Rio.
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Auch die Bundeskanz­lerin gratuliert zum WM-Titel 2014.

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