Zu viel Staat ist schädlich
Bonpflicht, Masern, Mindestlohn – seit Jahresbeginn gibt es neue staatliche Regulierungen. Das wirft die alte Frage auf, wie viel Staat für die Ökonomie nötig ist. Antworten gibt die Theorie des Wirtschaftsliberalimus.
Der Staat lässt im Jahr 2020 in Deutschland die Muskeln spielen: Die Bonpflicht für die Brötchentüte, die Masern-Impfpflicht, das Ansteigen des Mindestlohns und der Ökostromumlage – der Soli aber bleibt. Immer mehr mischt sich der Staat ein. Und das soll erst der Anfang sein: SPD und Linkspartei wollen die Vermögensteuer wieder einführen, die Grünen fordern ein Tempolimit. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ruft nach Staatshilfe für Stahlkonzerne. Doch wie viel Einmischung brauchen wir wirklich? Der alte Streit zwischen Etatisten und Liberalen um die Frage, wie viel Staat es im Kapitalismus geben muss, ist aktueller denn je.
Zunächst muss man mit einem Vorurteil aufräumen: Auch Liberale träumen nicht von einer schrankenlosen Wirtschaft. Schon Adam Smith, der Vater des Wirtschaftsliberalismus, wollte mehr als einen Nachtwächter-Staat. In seinem großen Werk „Wohlstand der Nationen“(1776) nannte er als das Ziel des Staates, den wirtschaftlichen Wohlstand zu fördern, ohne die „natürliche Freiheit“der Einzelnen zu behindern. Daraus leitete der Ur-Liberale drei große Aufgaben ab: Landesverteidigung, Justizwesen und Förderung von Handel und Gewerbe. Die ersten beiden dienten dem Schutz des Eigentums und des Einzelnen vor Gewalt und Willkür. Zur Förderung des Handels gehörte für Smith auch die Bereitstellung von Infrastruktur und Bildung.
Konjunkturpolitik und Umverteilung spielten für ihn dagegen keine Rolle. Hellsichtig sah Smith zwar schon am Vorabend der industriellen Revolution die soziale Frage des 19. Jahrhunderts voraus. Doch die Verwaltung des Armenwesens – das war in seinen Augen eine Aufgabe der Kirche. Armenhilfe erfolgt aus Barmherzigkeit, aber nicht als staatlicher Auftrag. Bis heute orientiert sich das Sozialverständnis in den USA daran. Charity gehört für reiche Amerikaner dazu, hohe Steuern für den Sozialstaat lehnen viele dagegen ab.
Karl Marx, der die Auswüchse des ungebändigten Frühkapitalismus in seinem Werk „Das Kapital“(1867) eindrucksvoll beschrieb, und seine späteren Anhänger suchten gar nicht mehr nach dem richtigen Staat für den Kapitalismus. Sie lehnten den Kapitalismus grundsätzlich als Wirtschaftssystem ab. Die Geschichte hat sie widerlegt. Doch die Frage nach dem richtigen Maß an Staat ist geblieben.
Klar ist: Man darf den Kapitalismus nicht alleine lassen, das wurde 1929 dramatisch klar. Inflation, Börsencrash und Bankenstürme lösten die Weltwirtschaftskrise aus, die wiederum den Aufstieg des deutschen Faschismus erleichterte. Unter dem Schock von 1929 schrieb der britische Ökonom John Maynard Keynes seine „General Theory“(1936) und gab die wirtschaftspolitische Debatte für das 20. Jahrhundert vor. Danach sollte der Staat die Konjunktur lenken, um Krisen zu verhindern. Er sollte immer dann als Nachfrager auftreten, wenn Verbraucher und Firmen sich zurückhalten. Doch die Staaten schafften es nicht, richtig zu dosieren und sich in guten Zeiten zu bescheiden. Das Ergebnis: Stagflation (Stagnation und Inflation) in den 70er und 80er Jahren, Staatsschuldenkrise nach der Jahrtausendwende.
Dabei gab es in Deutschland mit Ordoliberalismus und sozialer Marktwirtschaft einen Gegenentwurf. Marktwirtschaft sei wie Fußball, sagte Ludwig Erhard, CDU-Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963: „Wie beim Fußball der Schiedsrichter nicht mitspielen darf, hat auch der Staat nicht mitzuspielen“. Kartellkontrolle ja, Umverteilung nein, sollte das heißen. Anders lagen die Akzente bei Karl Schiller (SPD), Wirtschaftsminister von 1966 bis 1972: „So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig.“
Das „wie nötig“muss dabei immer neu definiert werden: Mit der Finanzkrise
Karl Schiller Bundeswirtschaftsminister (1966-1972)
2008 zeigte sich, dass in Zeiten von Turbokapitalismus und Hochfrequenzhandel die alten Spielregeln nicht reichen. Mangelnde Kontrollen für Banken, Boni-Regeln, billiges Geld und fehlende Auflagen für Hauskredite lösten die weltweite Krise aus. Europa hat daraus mit dem Regelwerk der Bankenunion seine Lehre gezogen, nun ist der Staat als Schiedsrichter neu gefragt.
Dass der Markt versagen kann, wissen auch Liberale. Marktversagen tritt immer auf, wenn es um externe Effekte wirtschaftlichen Handelns geht. Solange Konzerne wie RWE nichts für CO2-Emissionen zahlen mussten, hatten sie auch keinen Anreiz, schonend mit der Umwelt umzugehen. Dann wurden Verschmutzungsrechte (Emissionszertifikate) eingeführt. Das System sorgt auf kluge Art dafür, dass Umweltverschmutzung einen Preis bekommt. Weil die Energiebranche nur für ein
Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland steht, reicht das aber nicht. Auch Wohnen und Verkehr müssen einen Beitrag leisten. Doch anstatt das Zertifikate-System auf sie auszudehnen, hat die Politik nun ein kleinteiliges Klimapaket geschnürt: Der CO2-Preis wird politisch gesetzt und durch die Anhebung der Pendlerpauschale auch noch konterkariert. Das ergibt deutlich zu viel Staat.
Daneben gibt es weitere Bereiche, in denen auch Liberale staatliches Eingreifen für sinnvoll halten: nämlich bei Gütern, bei denen die private Nachfrage hinter der gesellschaftlich gewünschten zurückbleibt. „Meritorische Güter“nennt der US-Ökonom Richard Musgrave sie. Ein solches „verdienstvolles Gut“ist die Schulbildung, was auch die Schulpflicht rechtfertigt. Ebenso lässt sich die Impfpflicht für Kita-Kinder begründen. Denn fragen Eltern zu wenig Masern-Impfungen für ihre Kinder nach, sinkt die Durchimpfungsrate der Gesellschaft und Ausbrüche mit Todesfolgen drohen.
Schwieriger wird es bei der Verteilungspolitik, weil hier Wertvorstellungen von gerechter Gesellschaft eine Rolle spielen. Die entscheidende Frage ist, welchem Ziel die Verteilungspolitik dienen soll. Soll sie nur für Chancengleichheit sorgen oder für Ergebnisgleichheit? Soll sie nur dafür sorgen, dass jedes Kind, unabhängig vom Elternhaus, Zugang zu Schulen und Hochschulen bekommt? Oder soll durch Vermögenund Einkommensteuer auch der Wohlstand umverteilt werden? Liberale pochen darauf, nur Chancengleichheit zu sichern. Alles andere führt zu negativen individuellen Leistungsanreizen und schwächt das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Und dann verlieren alle.
Das gilt auch für die Steuerpolitik. Schon für Smith war klar, dass der Staat sich zur Erfüllung seiner Aufgaben über Steuern finanzieren und der Reiche anteilig mehr zahlen muss. Doch die Dosis macht das Gift. Smith: „Eine Steuer, die imstande ist, Kapital aus dem Land zu vertreiben, lässt die Einkommensquellen (des Staates) versiegen.“Manchmal hilft es, sich an alte Erkenntnisse zu erinnern.
„So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig“