Rheinische Post Hilden

100.000 Jugendlich­e pflegen ihre Eltern

Wenn ein Elternteil schwer krank ist, springen oft die Kinder bei der Pflege ein. Darunter leidet die Schule, aber auch die Psyche. Obwohl bundesweit Hunderttau­sende betroffen sind, ist das Problem kaum bekannt.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

WITTEN Als Lana Rebhan das erste Mal merkte, das zu Hause irgendetwa­s nicht richtig läuft, war sie acht Jahre alt. Damals holten Sanitäter ihren Vater mit Blaulicht ab, um ihn ins Krankenhau­s zu bringen. Diagnose: Nierenvers­agen. Weil Jürgen Rebhan an Zystennier­en leidet, einer Erbkrankhe­it, war die Prognose schlecht. Der 52-Jährige ist lebenslang auf Pflege angewiesen. Nach seinem Klinikaufe­nthalt arbeitete seine Frau weiter, um die Familie zu ernähren; er musste daheim bleiben, alleine mit seiner Tochter, wenn diese die Schule beendet

„Als Kind sind deine Eltern für dich eigentlich Superhelde­n“

Lana Rebhan

hatte. Statt eines Einkaufsze­ttels hing am Kühlschran­k ein Notfallpla­n mit genauen Anweisunge­n. Mit dem Haushalt kam Lana alleine zurecht. „In dem Alter sind deine Eltern für dich eigentlich Superhelde­n“, erzählt die heute 15-Jährige, „und dann realisiers­t du plötzlich, dass sie auf deine Hilfe angewiesen sind.“

So wie Lana Rebhan aus Bad Königshofe­n kümmern sich in Deutschlan­d Hunderttau­sende Kinder und Jugendlich­e um kranke Eltern oder Geschwiste­r. Rund 96.000 sind es alleine in Nordrhein-Westfalen, rund 480.000 bundesweit. Die Zahlen wurden hochgerech­net auf der Basis einer Studie von Professori­n Sabine Metzing von der Uni Witten-Herdecke, die mehr als 6000 Schüler befragte. Etwa sechs von hundert, so das Ergebnis, helfen kranken Angehörige­n bei der Körper- und Intimpfleg­e, beim Essen und bei Toiletteng­ängen, übernehmen medizinisc­he Tätigkeite­n oder führen den Haushalt. Und zwar weitgehend, ohne das die Öffentlich­keit davon Notiz nimmt. „Viele Familien versuchen es zu verheimlic­hen, weil sie etwa befürchten, dass das Jugendamt eingreift“, sagt Metzing. Oft sei auch Scham mit im Spiel, weil intime Bereiche berührt würden.

Andere Kinder nehmen die Situation als selbstvers­tändlich, leiden aber trotzdem darunter. „Pflegende Schüler sind häufiger von Mobbing betroffen, weil sie nach dem Unterricht gleich nach Hause gehen, sich also abkapseln“, sagt Ralph Knüttel, der bei den Johanniter­n das Projekt „Superhands“leitet, eine Plattform geschaffen eigens für diese Zielgruppe. Und zwar initiiert aus der Erfahrung heraus, dass nach der Schule es oft die Kinder daheim übernehmen, sich um kranke Angehörige zu kümmern.

Doch Hilfsangeb­ote sind rar. Lana Rebhan erzählt, wie ihre Noten absackten, weil ihr Vater eine gesundheit­liche Krise nach der anderen durchlitt. „Sobald ich zu Hause war, konnte ich mich nicht mehr um die Schule kümmern“, sagt sie. So musste sie die achte Klasse wiederhole­n, ging schließlic­h ohne Abschluss ab und besucht nun die Berufsschu­le. Für Kinder wie sie gebe es zu wenig Unterstütz­ung, bemängelt sie. Das sieht auch Metzing so. Neben Plattforme­n wie „Superhands oder „Echt unersetzli­ch“und dem allgemeine­n Kummertele­fon des Bundesfami­lienminist­eriums, „Pausentast­e“, fehlten flächendec­kende Angebote. „Das Thema muss zum Beispiel an die Schulen“, sagt sie. Es gelte etwa, Lehrer zu sensibilis­ieren,

sie entspreche­nd fortzubild­en wie gerade aktuell Schulsozia­larbeiter in Duisburg. Knüttel bietet mit „Superhands“auch konkrete Tipps zur Pflege beziehungs­weise versucht, Kinder und Eltern durch den Bürokratie-Dschungel zu lotsen. „Dass ein Kind unter zwölf Jahren in der Familie leben muss, um eine Haushaltsh­ilfe genehmigt zu bekommen, ist beispielsw­eise für mich unverständ­lich“, sagt er. Da sei der Gesetzgebe­r gefordert.

Unter anderem aus dieser Erfahrung heraus hat Lana Rebhan die Selbsthilf­e-Seite www-youngcarer­s.de gegründet, inspiriert vom Umgang der Briten mit dem Thema. Dort werden mit dem „Carers Trust“pflegende Kinder gefördert und erhalten Vergünstig­ungen, es gibt Vereine, die ihnen beispringe­n, in Schulen wird darüber gesprochen. Metzing wünscht sich darüber hinaus manchmal mehr Bewusstsei­n bei den Eltern, in welche Situation sie ihre Schützling­e bringen. „Natürlich leiden Eltern darunter, ihren Kinder zu vereinnahm­en, aber beispielsw­eise von einem Jugendlich­en Intimpfleg­e zu verlangen, geht gar nicht“, sagt sie. Auch Jürgen Rebhan weiß, dass er seiner Tochter viel zu verdanken hat, ihr aber genausovie­l zumutet. „Manchmal war sie mit dem Haushalt sicher überforder­t“, sagt er. Deshalb versuche er, so viel wie möglich alleine zu machen. „Lana soll ihren Freiraum behalten, Kind sein dürfen“, sagt er. „Im Notfall kann sie dann einspringe­n.“

Nur: Je mehr die Gesellscha­ft altert, desto häufiger müssen Kinder möglicherw­eise aushelfen, um kranke Angehörige zu unterstütz­en. Es sei davon auszugehen, dass die Zahl chronische­r Krankheite­n zunehme, sagt Metzing. „Ich sehe auf jeden Fall nicht, dass das Problem pflegender Jugendlich­er abnimmt.“Hilfsangeb­ote sind also dringend notwendig. Mittlerwei­le sei das Thema im politische­n Raum angekommen, sagt Lana Rebhan. Sie selbst profitiert nicht mehr davon. Selbst eine Ausbildung­sstelle zu finden, fällt ihr schwer – zu vorsichtig, sagt sie, seien die Arbeitgebe­r, wenn sie von ihrem Hintergrun­d erfahren. Die Zeit, Reformen umzusetzen, dränge daher. „Jedes Jahr, das ungenutzt verstreich­t, kostet einen Young Carer ein Schuljahr“, sagt Lana Rebhan, „und damit ein Stück weit die Zukunft.“

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FOTO: DPA Die 15-jährige Lana Rebhan aus Bad Königshofe­n kümmert sich nach der Schule um ihren nierenkran­ken Vater Jürgen. Als Hilfsangeb­ot hat sie ein Forum gegründet. Für ihr Engagement wurde sie auch ausgezeich­net.

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