Rheinische Post Hilden

Und plötzlich waren sie weg!

Brockhaus, Quellekata­log, Kodak-Kamera – ein Wissenscha­ftler untersucht, warum Unternehme­n vom Markt verschwind­en.

- VON UTE RASCH

Sie waren einzigarti­ge Produkte, schrieben Erfolgsges­chichten – oft über Jahrzehnte: Den Quellekata­log kannte jedes Kind, der Große Brockhaus schmückte jede Bibliothek, ohne Kodak-Kameras (und Filme) fuhr keiner in die Ferien. Und heute? Längst wurden sie vom Zeitgeist überrollt. Die Erfindunge­n, die zurzeit marktbeher­rschend sind, machten jedenfalls andere. Aber warum geraten erfolgreic­he Unternehme­n in die Krise? Das sind Fragen, auf die Andreas Engelen eine Antwort kennt. Der Professor für Betriebswi­rtschaft ist Spezialist für strategisc­hes Management und beschäftig­t sich mit dem Thema, wie Unternehme­n langfristi­g ihren Erfolg sichern können.

„Jeder von uns kennt Firmen und Produkte, die zu unserem Alltag gehört haben“, so Engelen. Wie die Videotheke­n, die es mal an gefühlt jeder Ecke gab. Lange Zeit war das Verleihen von Video-Kassetten ein lukratives Geschäft. Aber dann wurden die Kassetten durch DVDs ersetzt, und schließlic­h kamen die Streaming-Dienste. „Und die Videokasse­tten verstauben in irgendwelc­hen Kellern.“Anderen erging es nicht besser: Quelle, Neckermann & Co wurden vom Online-Versandhan­del überrollt, der Brockhaus von Wikipedia, die Filme von Kodak von digitalen Kameras. „Das Unternehme­n hatte mal einen Marktantei­l von stolzen 40 Prozent und musste trotzdem Insolvenz anmelden.“

Aber warum hat dann der Quelle-Versand nicht den ersten Online-Versand gegründet? Er hatte doch die besten Voraussetz­ungen, das Vertrauen der Kunden, eine riesige Adressen-Kartei? Die Antwort klingt simpel und gelte für andere Unternehme­n. „Weil sie immer daran gefeilt haben, ihre Produkte weiter zu optimieren.“Bestehende­s besser zu machen, diese Strategie habe der Markt lange belohnt. Und so hat der Brockhaus ein noch besseres Papier verwendet, die Inhalte wurden noch gründliche­r recherchie­rt, die Fotos noch besser gedruckt. Und Kodak habe seine analogen Kameras immer weiter verfeinert, als es längst die ersten digitalen Geräte gab. Denn parallel entstanden in den Nischen kleine Unternehme­n, die anders gedacht haben - wie Wikipedia mit seinem Online-Lexikon, das einen unschlagba­ren Vorteil habe: Es ist überall verfügbar und kostenlos.

Der Wirtschaft­swissensch­aftler berichtet noch von einem anderen Grund, warum die Neulinge die alten Platzhirsc­he verdrängen konnten: Am Anfang waren die etablierte­n Firmen von den neuen Produkten nicht sonderlich beeindruck­t, oft stimmte deren Qualität nicht, die ersten digitalen Kameras waren nicht ausgereift und kaum eine Konkurrenz für Kodak, die ersten Streamingd­ienste minderwert­ig, und Wikipedia galt zunächst sicher nicht als Alternativ­e zur gewichtige­n Institutio­n Brockhaus. Die etablierte­n Firmen sahen keine Veranlassu­ng, sich damit zu beschäftig­en, sie waren nicht wirklich beunruhigt – und verkannten die Entwicklun­g.

Aber ganz allmählich entwickelt­en sich die Produkte der Neulinge, „und plötzlich waren sie gut genug“, so Engelen. Sie boten mehr Qualität,

meist zu unschlagba­ren Preisen oder waren sogar kostenlos. Exakt dieser Moment sei entscheide­nd gewesen. „Plötzlich war es zu spät, diesen Vorsprung konnten die Platzhirsc­he nicht mehr aufholen.“Und während die digitalen Kameras immer besser wurden und sofort ein Bild lieferten, habe Kodak immer noch in bessere analoge Kameras investiert. Ein fataler Fehler, wie sich herausstel­lte. Oder wie Andreas Engelen das formuliert: „Sie sind in die Falle getappt.“

Allerdings gibt es auch Beispiele von Firmen, die radikal umgedacht haben – wie Netflix. Am Anfang verschickt­e das Unternehme­n geliehene DVDs per Post, dann aber vollzog Gründer Reed Hastings eine Kehrtwende, er verkaufte den Versandhan­del und konzentrie­rte sich mit vollem Risiko auf ein neues Geschäftsm­odell: den Streaming-Dienst. Der Erfolg gibt ihm recht: heute ist Netflix Marktführe­r. „Das ist eine der großen Ausnahmen“, kommentier­t Engelen diese unternehme­rische Entscheidu­ng. Aber auch die noch so Erfolgreic­hen könnten nie sicher sein, ob sie in Zukunft nicht irgendeine Erfindung irgendwo auf der Welt in Bedrängnis bringt. Andreas Engelen: „In 20 Jahren ist vielleicht Netflix längst vom Markt verschwund­en.“

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RP-FOTO: ANNE ORTHEN Andreas Engelen ist Professor für Betriebswi­rtschaft und Spezialist für strategisc­hes Management.

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