Warum Kliniken kranke Kinder abweisen müssen
Ein Baby aus Essen bekam erst in Neuss ein Klinikbett. Die komplizierte Suche nach Hilfe könnte Eltern öfter drohen: Vielen Kinderstationen fehlt Personal.
NEUSS/ESSEN Erst nach mehreren Stunden und vielen Telefonaten hat ein krankes Baby aus Essen ein Klinikbett bekommen. Das zwei Monate alte Mädchen war vom Kinderarzt mit der Diagnose einer schweren Virusinfektion ins Krankenhaus eingewiesen worden. Allerdings hatte keine Klinik in der Umgebung Kapazität, es stationär aufzunehmen. Dabei brauchte die Kleine mit einer obstruktiven Bronchitis und Atemaussetzern keine intensivmedizinische Betreuung, sondern lediglich ein Einzelzimmer, um eine Ansteckung anderer Kinder zu vermeiden. Ein Arzt einer Notaufnahme in Oberhausen fand nach mehreren Telefonaten nur im rund 60 Kilometer entfernten Neuss ein Bettchen. Dort wurde die Familie aufgenommen. Dem Kind geht es inzwischen besser.
Der Fall wirft die Frage nach der Verantwortlichkeit für die medizinische Versorgung von kranken Kindern auf. Hätte der Kinderarzt das Kind als Notfall eingestuft, hätte ein Rettungsdienst die Koordination der Krankenhausfrage übernommen. Da dies aber nicht der Fall war, waren die Eltern mit der Suche nach einem freien Bett zunächst auf sich selbst gestellt. Denn grundsätzlich haben Patienten freie Arzt- und Krankenhauswahl. Wenn man also vorab beispielsweise in einer Klinik anruft und wegen Überfüllung abgewiesen wird, steht man als Patient mit leeren Händen da. Erst wenn man tatsächlich – wie auch im Fall der Essener Familie – persönlich in einem Krankenhaus oder einer Notaufnahme erscheint, muss die Klinik ihrem regionalen Versorgungsauftrag nachkommen, heißt: bei Abweisung eines Patienten Kontakt zu anderen Kliniken aufnehmen und eine Verlegung organisieren.
Dass an dem Tag, als die Eltern aus Essen dringend ein Bett für ihre Tochter benötigte, wirklich alle Kliniken
in der näheren Umgebung belegt waren, war einfach großes Pech. „Es muss entweder ein extrem hohes Patientenaufkommen oder massive Personalknappheit gegeben haben“, sagt Edwin Ackermann vom Berufsverband der Kinderund Jugendärzte in NRW mit Blick auf den Fall. Dabei weist die Situation auf ein grundlegendes Problem hin: die knappen Ressourcen in Kinderkliniken.
„Wir rechnen damit, dass sich der
Pflegemangel in der Kinderheilkunde in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird und immer mehr Kinderintensivbetten aber auch normale Stationen geschlossen werden müssen“, sagt Ackermann. Eine Notsituation, wie sie die Essener Familie erlebt hat, könnte also in Zukunft häufiger auftreten. „Wenn in der Politik von ‚Pflegenotstand’ die Rede ist, sind damit oft die Altenund Krankenpflege gemeint. Die Kindermedizin wird oft vergessen“, sagt der Kinderarzt. Dabei handle es sich weniger um ein räumliches als um ein personelles Problem: Betten auf Kinderstationen blieben oft ungenutzt, weil die Klinik vor allem am Wochenende den nötigen Personalschlüssel nicht erfüllen könne. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin sehen vor, dass auf einer normalen Station eine Pflegekraft für maximal vier Patienten zuständig sein darf, auf Intensivstationen sogar nur für zwei.
Vom selben Problem berichtet auch die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW ), in der alle 344 Kliniken in NRW organisiert sind. „Wir hören immer wieder von Krankenhausbetreibern, dass sie ihre Kinderstationen am Wochenende bei der Leitstelle der Rettungsdienste abmelden, weil sie keine Kapazitäten mehr haben“, sagt Sprecher Lothar Kratz. Offen kommunizieren würde diesen Personalmangel aber fast kein
Krankenhaus – aus Angst vor einem schlechten Image und Nachteilen Mitbewerbern gegenüber.
„Gerade die pädiatrischen Stationen stehen zusätzlich unter einem hohen Prüfungsdruck, da fast keine Station in NRW kostendeckend arbeitet“, sagt Kratz. Wenn der medizinische Dienst der Krankenkassen also beispielsweise im Nachhinein feststellt, dass ein Patient überbehandelt wurde, kann es sein, dass das Krankenhaus eine Strafe an die Krankenkasse zahlen muss oder aber auf Teilkosten für die Behandlung des Kindes sitzen bleibt.
Dieser wirtschaftliche Druck kann die Versorgung kranker Kinder dauerhaft gefährden. In einer Petition hat die Akademie der Kinder- und Jugendmedizin den Bundestag daher dazu aufgefordert, sich mit den Rahmenbedingungen in der Kinderpflege zu beschäftigen. Die Petition hat ausreichend viele Unterschriften bekommen und wurde in der vergangenen Woche eingereicht.