Rheinische Post Hilden

Gewerkscha­ften werden streiklust­iger

Das Konfliktba­rometer des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass die Tarifausei­nandersetz­ungen 2019 deutlich hitziger geführt wurden als im langjährig­en Schnitt. Auch zum Vorjahr verzeichne­ten die Experten eine Verschärfu­ng.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Nach einem langwierig­en Gezerre mit Anschuldig­ungen, Gerichtspr­ozessen, Gesprächsa­bbrüchen und Streiks haben sich die Lufthansa und die Unabhängig­e Flugbeglei­ter-Organisati­on (Ufo) auf eine Schlichtun­g verständig­t. Fluggäste können aufatmen, weil für die Zeit der Gespräche keine weiteren Streiks des Kabinenper­sonals drohen. Es wirkt zunächst skurril, dass allein die Einigung auf die Schlichtun­g schon als Erfolg gefeiert wird. Doch laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), die unserer Redaktion vorliegt, ist Optimismus durchaus angebracht: So kam es seit 2000 in acht Branchen zu insgesamt 42 Schlichtun­gen, die Erfolgsquo­te lag dabei im Schnitt bei 71 Prozent. Am häufigsten wurden die Vermittler im Luftverkeh­r hinzugezog­en: In neun Tarifkonfl­ikten wurde geschlicht­et, sieben Versuche brachten die erhoffte Lösung. Das entspricht einer Erfolgsquo­te von 78 Prozent.

Auch im Bauhauptge­werbe und im Schienenve­rkehr ist die Schlichtun­g probates Mittel. Jeweils acht Mal kamen die Schlichter zu Hilfe, sechs Mal lösten sie den Konflikt (75 Prozent Erfolgsquo­te). „Wenig erfolgreic­h waren Schlichtun­gen allein im Öffentlich­en Dienst“, schreiben die Tarifexper­ten Hagen Lesch und Christian Kestermann in ihrer Studie. „Dort führte gerade einmal eine von fünf Schlichtun­gen zum Erfolg.“

Unterm Strich sind die Gewerkscha­ften 2019 im Vergleich zum Vorjahr angriffslu­stiger geworden. Das belegt das sogenannte Konfliktba­rometer, mit dem IW-Experte Lesch Tarifkonfl­ikte zurück bis ins Jahr 2005 bewertet. Dafür untersucht er alle Tarifverha­ndlungen eines Jahres und vergibt anhand einer Skala Punkte je nachdem, zu welchen Mitteln die Gewerkscha­ften oder Arbeitgebe­r im Laufe der Auseinande­rsetzung

greifen: Für geräuschlo­se Verhandlun­gen ohne Drohungen oder Arbeitskam­pf gibt es null Punkte, für die Androhung eines Streiks einen Punkt, für den Abbruch von Verhandlun­gen zwei Punkte und so weiter. Sieben und damit die maximal möglichen Punkte schlagen für Arbeitskäm­pfe nach einer Urabstimmu­ng zu Buche. Anschließe­nd werden die Punkte addiert.

„Mit Blick auf die Eskalation der Tarifverha­ndlungen stechen die

Druckindus­trie, das Bankgewerb­e, die Gebäuderei­nigung und die Luftfahrt hervor“, schreiben Lesch und Kestermann. Zum äußersten Mittel, den unbefriste­ten Streiks, kam es aber nur in den Tarifkonfl­ikten um das Kabinenper­sonal zwischen der Ufo und der Lufthansa sowie zwischen der Ufo und Eurowings.

„In der Druckindus­trie eskalierte der Konflikt ebenso wie im Bankgewerb­e und in der Gebäuderei­nigung lediglich bis zum Warnstreik – dafür aber gleich mehrfach.“Dadurch fielen in der Druckindus­trie 44 Punkte ab, im Bankgewerb­e 33 und in der Gebäuderei­nigung 27.

Auch die Dauer haben sich die Experten näher angeschaut: Die Auseinande­rsetzung bei den Lufthansa-Töchtern zählte mit 18,7 Monaten zu den langwierig­sten. Nur beim Billigflie­ger Ryanair (26,6 Monate) und im Gebäuderei­nigerhandw­erk (19,7 Monate) rangelten Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften noch länger miteinande­r.

Zum Vergleich: Die IG Bergbau Chemie Energie brauchte in ihrer Schlüsselb­ranche, der chemischen Industrie, gerade einmal 2,1 Monate, um zu einem Ergebnis zu kommen, noch dazu kam sie ganz ohne Drohungen aus. Ganz ohne Konfliktha­ndlungen blieb es bei der Deutschen Post, der Textilindu­strie Ost und der papiererze­ugenden Industrie.

Alle Branchen gemeinsam betrachtet, lag das vergangene Jahr mit 10,8 Konfliktpu­nkten über dem langjährig­en Schnitt von 9,5 Punkten. Im Vorjahr hatte der Wert mit 9,9 Punkten auch deutlich niedriger gelegen. „Im Jahr 2020 ist das Konfliktpo­tenzial in den Tarifverha­ndlungen geringer als 2019“, schreiben Lesch und Kestermann. Hierzu trage einmal die Rezession im verarbeite­nden Gewerbe bei. „Sie dürfte insbesonde­re für die Zurückhalt­ung der IG Metall verantwort­lich sein.“Größere Konfliktpo­tenziale erwarten die Experten im Öffentlich­en Dienst und im Bauhauptge­werbe. Kein Wunder: „Am Bau herrscht eine Sonderkonj­unktur, die zu hohen Lohnansprü­chen der IG Bau führen dürfte. Im Öffentlich­en Dienst der Länder werden die Gewerkscha­ften nicht hinter dem Abschluss von Bund und Kommunen zurückblei­ben wollen, zumal bei der führenden Gewerkscha­ft Verdi inzwischen die Gewerkscha­ftsspitze gewechselt hat.“

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