Gewerkschaften werden streiklustiger
Das Konfliktbarometer des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass die Tarifauseinandersetzungen 2019 deutlich hitziger geführt wurden als im langjährigen Schnitt. Auch zum Vorjahr verzeichneten die Experten eine Verschärfung.
DÜSSELDORF Nach einem langwierigen Gezerre mit Anschuldigungen, Gerichtsprozessen, Gesprächsabbrüchen und Streiks haben sich die Lufthansa und die Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (Ufo) auf eine Schlichtung verständigt. Fluggäste können aufatmen, weil für die Zeit der Gespräche keine weiteren Streiks des Kabinenpersonals drohen. Es wirkt zunächst skurril, dass allein die Einigung auf die Schlichtung schon als Erfolg gefeiert wird. Doch laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), die unserer Redaktion vorliegt, ist Optimismus durchaus angebracht: So kam es seit 2000 in acht Branchen zu insgesamt 42 Schlichtungen, die Erfolgsquote lag dabei im Schnitt bei 71 Prozent. Am häufigsten wurden die Vermittler im Luftverkehr hinzugezogen: In neun Tarifkonflikten wurde geschlichtet, sieben Versuche brachten die erhoffte Lösung. Das entspricht einer Erfolgsquote von 78 Prozent.
Auch im Bauhauptgewerbe und im Schienenverkehr ist die Schlichtung probates Mittel. Jeweils acht Mal kamen die Schlichter zu Hilfe, sechs Mal lösten sie den Konflikt (75 Prozent Erfolgsquote). „Wenig erfolgreich waren Schlichtungen allein im Öffentlichen Dienst“, schreiben die Tarifexperten Hagen Lesch und Christian Kestermann in ihrer Studie. „Dort führte gerade einmal eine von fünf Schlichtungen zum Erfolg.“
Unterm Strich sind die Gewerkschaften 2019 im Vergleich zum Vorjahr angriffslustiger geworden. Das belegt das sogenannte Konfliktbarometer, mit dem IW-Experte Lesch Tarifkonflikte zurück bis ins Jahr 2005 bewertet. Dafür untersucht er alle Tarifverhandlungen eines Jahres und vergibt anhand einer Skala Punkte je nachdem, zu welchen Mitteln die Gewerkschaften oder Arbeitgeber im Laufe der Auseinandersetzung
greifen: Für geräuschlose Verhandlungen ohne Drohungen oder Arbeitskampf gibt es null Punkte, für die Androhung eines Streiks einen Punkt, für den Abbruch von Verhandlungen zwei Punkte und so weiter. Sieben und damit die maximal möglichen Punkte schlagen für Arbeitskämpfe nach einer Urabstimmung zu Buche. Anschließend werden die Punkte addiert.
„Mit Blick auf die Eskalation der Tarifverhandlungen stechen die
Druckindustrie, das Bankgewerbe, die Gebäudereinigung und die Luftfahrt hervor“, schreiben Lesch und Kestermann. Zum äußersten Mittel, den unbefristeten Streiks, kam es aber nur in den Tarifkonflikten um das Kabinenpersonal zwischen der Ufo und der Lufthansa sowie zwischen der Ufo und Eurowings.
„In der Druckindustrie eskalierte der Konflikt ebenso wie im Bankgewerbe und in der Gebäudereinigung lediglich bis zum Warnstreik – dafür aber gleich mehrfach.“Dadurch fielen in der Druckindustrie 44 Punkte ab, im Bankgewerbe 33 und in der Gebäudereinigung 27.
Auch die Dauer haben sich die Experten näher angeschaut: Die Auseinandersetzung bei den Lufthansa-Töchtern zählte mit 18,7 Monaten zu den langwierigsten. Nur beim Billigflieger Ryanair (26,6 Monate) und im Gebäudereinigerhandwerk (19,7 Monate) rangelten Arbeitgeber und Gewerkschaften noch länger miteinander.
Zum Vergleich: Die IG Bergbau Chemie Energie brauchte in ihrer Schlüsselbranche, der chemischen Industrie, gerade einmal 2,1 Monate, um zu einem Ergebnis zu kommen, noch dazu kam sie ganz ohne Drohungen aus. Ganz ohne Konflikthandlungen blieb es bei der Deutschen Post, der Textilindustrie Ost und der papiererzeugenden Industrie.
Alle Branchen gemeinsam betrachtet, lag das vergangene Jahr mit 10,8 Konfliktpunkten über dem langjährigen Schnitt von 9,5 Punkten. Im Vorjahr hatte der Wert mit 9,9 Punkten auch deutlich niedriger gelegen. „Im Jahr 2020 ist das Konfliktpotenzial in den Tarifverhandlungen geringer als 2019“, schreiben Lesch und Kestermann. Hierzu trage einmal die Rezession im verarbeitenden Gewerbe bei. „Sie dürfte insbesondere für die Zurückhaltung der IG Metall verantwortlich sein.“Größere Konfliktpotenziale erwarten die Experten im Öffentlichen Dienst und im Bauhauptgewerbe. Kein Wunder: „Am Bau herrscht eine Sonderkonjunktur, die zu hohen Lohnansprüchen der IG Bau führen dürfte. Im Öffentlichen Dienst der Länder werden die Gewerkschaften nicht hinter dem Abschluss von Bund und Kommunen zurückbleiben wollen, zumal bei der führenden Gewerkschaft Verdi inzwischen die Gewerkschaftsspitze gewechselt hat.“