50 Prozent Talent, 50 Prozent Schinderei
Wenn Mitte März der neue Ballettabend „b.43“Premiere feiert, sind die beiden Brasilianer Marlúcia do Amaral und Marcos Menha in zwei Solo-Stücken zu erleben. Hinter dem Auftritt als Solist steckt harte Arbeit.
Solo-Stücke sind Glanzpunkte im Leben eines Tänzers. Die moderne Primaballerina verwandelt sich in einen Naturgeist, der den Menschen die rosarote Brille von der Nase fegt, damit sie sehen, was es mit dem Leben auf sich hat. In diesen Momenten höchster Kunst lasten alle Ansprüche auf einem einzigen Tänzer. Choreografie, Musik, Handlung – der Solist muss zu all dem kongenial passen. „Du bist wie ein Raubtier, wach und hochkonzentriert“, sagt Marlúcia do Amaral. Sie ist Tänzerin
„Du bist wie ein Raubtier, wach und hochkonzentriert“
Marlúcia do Amaral Tänzerin am Ballett am Rhein
am Ballett am Rhein. Wenn es gilt, anspruchsvolle Partien zu besetzen, fällt die Wahl fast immer auf sie. Die Brasilianerin macht aus Tanz eine Offenbarung und hat für diese kontinuierliche Spitzenleistung zahlreiche Preise erhalten; zuletzt im vergangenen Jahr den „Faust“für ihre Verkörperung der Odette in Martin Schläpfers „Schwanensee“.
Im Rahmen des vierteiligen Ballettabends „b.43“, der am 13. März Premiere feiert, ist do Amaral in einem von zwei Solo-Stücken zu sehen. Schläpfer hatte „Ramifications“2005 nach der gleichnamigen Komposition von György Ligeti eigens für sie kreiert. Als „eine Erforschung des Körpers im Raum“beschreibt der Einführungstext die Choreografie. „Ja, auch das“, sagt do Amaral. „Aber sie ist vor allem alles, was ich lebe und bisher gelebt habe. Meine Liebe, mein Glück, mein Leid. ,Ramifications‘ zu tanzen, ist eine Herausforderung. Das Stück hat sich mit mir weiterentwickelt, heute wird es von mehr Souveränität getragen als damals.“
Marcos Menha sitzt neben ihr und nickt. Er kennt das Werk, und er kennt Marlúcia seit vielen Jahren. Er tanzt in dem zweiten Solo-Stück des Abends, „Notations I bis IV“von Uwe Scholz. Auch Menha arbeitet seit Jahren mit Schläpfer. Auch er ist ein Ausnahmekünstler und, wie do Amaral, Brasilianer. Niemand, der bei Trost ist, würde nun von der Herkunft auf die hohe Kompetenz der beiden Tänzer schließen, bloß weil Brasilien als Synonym körperlicher Sinnlichkeit gilt.
Es gibt aber doch Verästelungen, meint do Amaral. „Wir haben beide sehr hart gearbeitet, um hier sein zu können. Brasilien gibt sich nicht sehr viel Mühe, die Kunst zu fördern. Aktuell scheint die Kultur sogar ganz zu verschwinden. Aber wir wollten tanzen, das war unser größter Wunsch. Also haben wir alles gegeben.“
Diese vehemente Form der Hingabe ist nicht an eine berufsbedingte Notwendigkeit gekoppelt, sondern entspringt einem starken Willen. Als Menha für die unfassbar anstrengenden „Notations I bis IV“probt und Giovanni di Palma, der die Choreografie mit ihm einstudiert, sagt, „Das war wunderbar“, lächelt Menha das Lob weg. „Können wir die grands battements noch mal machen?“Den Boden unter seinen Füßen spürt er da schon nicht mehr. Und dennoch. „Du fühlst dich lebendig“, sagt er. Trotz Fieber und Schmerz zu trainieren, härter zu arbeiten als andere. Bereit zu sein, seine ganze Persönlichkeit in ein Stück zu legen: Darum gehe es bei einem Solisten. „Ein Solist ist nicht der Tänzer im Rampenlicht, sondern der fleißige Arbeiter hinter den Kulissen“, sagt Menha. „50 Prozent Talent und 50 Prozent Schinderei machen einen guten Solisten.“
Die ersten Tänzer der Pariser Oper werden „étoiles“, Sterne, genannt, als seien sie nicht von dieser Welt. Do Amaral und Menha winken ab: Das sei Politik. „Wir geben unsere Leidenschaft und ringen mit uns“, sagt Menha. „Meine Arbeit erdet mich, und das ist gut so.“Drei Flaschen Wasser trinkt er während der knapp einstündigen Probe. Die Nacht zuvor hat er geträumt, seine Beine seien zu schwer für die erforderlichen Figuren, ein Alptraum. „Ich bin ganz und gar ,Notations I bis IV‘. Von Kopf bis Fuß.“In seinen Augen kann es gar nicht genug Korrekturen geben und Marlúcia do Amaral meint: „Man kann immer noch etwas besser machen, aber die Zeit reicht nicht. Ein Tänzerleben ist einfach zu kurz.“Irgendwann geht es ja auch hinaus auf die Bühne.
„Ramifications“und „Notations I bis IV“liegen im Zentrum des Ballettabends. Sie balancieren auf den scharfkantigen Kompositionen von Ligeti und Pierre Boulez. Jedoch formen erst die Solisten aus den musikalischen, tänzerischen und inhaltlichen Parametern das Gesamtkunstwerk. „Wir sind die Übersetzer des Choreografen“, sagt Marlúcia do Amaral. „Diese Verantwortung teilen wir mit niemandem.“Selten sei ein Tänzer einsamer. Hunderte feine Antennen fahren sie an einem solchen Abend aus, sind in hohem Maße sensitiv. „Wir nehmen alles wahr“, sagt do Amaral. Das Aufwärmen der Tanzkollegen an der Seitenbühne, das Kaugummikauen, sogar wenn jemand auf sein Handy blickt. Kleinst-Reize, die zu Störungen anschwellen. Das strengt an. Aber sie und Menha halten es aus, das ist ihre Mission.