Rheinische Post Hilden

Zurück zum Hamster-Prinzip

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Die leeren Regale in vielen Supermärkt­en erscheinen seltsam anachronis­tisch, wie ein Gruß aus fernen Zeiten von nachkriegs­bedingter Lebensmitt­elknapphei­t und sozialisti­scher Mangelwirt­schaft. Das Coronaviru­s und die Sorge, in Quarantäne zu geraten, treibt verunsiche­rte Bürger in unserer Überflussg­esellschaf­t dazu, Vorräte im Übermaß anzulegen. Supermarkt­ketten vermelden eine extreme Nachfrage nach haltbaren Produkten – Nudeln, Reis, Konserven und Toilettenp­apier sind teilweise ausverkauf­t. Trotz Beteuerung­en des Handels, dass Lieferkett­en nicht gefährdet seien, greifen die Verbrauche­r weiter zu. Als Hamstern wird dieses Kaufverhal­ten gerne umgangsspr­achlich bezeichnet, weil Menschen sich ihre Schränke daheim füllen wie Hamster ihre Backen. Hinter dem vermeintli­ch übertriebe­nen Verhalten steckt die tiefsitzen­de Angst, dass der zivilisato­rische Firnis dünn und auf staatliche Fürsorge kein Verlass ist.

Tatsächlic­h sicherten ausreichen­de Vorräte bereits vor Jahrtausen­den das menschlich­e Überleben. Schon in der Neusteinze­it erkannten die Menschen vor allem in nördlichen Gefilden, dass sie Vorräte brauchen, um die langen Kälteperio­den zu überstehen. Daraus entwickelt­e sich zum einen die Viehhaltun­g als Form der Bevorratun­g, zum anderen wurden Techniken erfunden, um Kulturpfla­nzen oder Fleisch zu konservier­en – etwa Trocknen, Pökeln, Räuchern. Dabei waren die Bedenkentr­äger klar im Vorteil, erklärt der Göttinger Angstforsc­her Borwin Bandelow. „Die Ängstliche­n haben gesagt, das wird ein harter Winter, wir müssen trockenen Fisch und Salzfleisc­h einlagern, sonst kommen wir nicht durch“, sagt der Wissenscha­ftler. Während die Sorglosen gestorben seien, hätten die Ängstliche­n überlebt. Und die Angst sei bis heute in unseren Genen verankert, erklärt Bandelow. Sie kann unser Verhalten beeinfluss­en – ob in angemesser Weise oder nicht.

Die Sicherheit, dass unsere Marktwirts­chaft einen steten Nachschub von Gütern gewährleis­tet, stellte sich erst verhältnis­mäßig spät ein. Bis zum flächendec­kenden Einsatz von Kühlschrän­ken in den 1930er Jahren waren Speisekamm­ern in den Haushalten üblich; Kartoffeln wurden und werden auch Jahrzehnte danach noch in Vorratskel­lern gelagert. Mit dem ständig wachsenden Angebot an frischen Waren erübrigte sich diese Vorratshal­tung allerdings mehr und mehr. „Insofern ist die Nicht-Bevorratun­g erst ein Phänomen aus jüngster Zeit“, sagt Karl Brenke, Arbeitsmar­ktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung. Heute denkt kaum noch jemand darüber nach, Vorräte anzulegen, die mehr als den Bedarf eines Wochenende­s decken. Von den Empfehlung­en der Bundesregi­erung, zumindest den Bedarf an Lebensmitt­eln und Wasser für zehn Tage daheim vorzuhalte­n, halten die Menschen heutzutage somit wohl eher weniger.

Auch bei vielen großen Unternehme­n wie beispielsw­eise Autoherste­llern sieht das nicht unbedingt anders aus. Lagerhaltu­ng ist aufwendig und kosteninte­nsiv und muss daher so kurz und effizient wie möglich gehalten werden; benötigte Teile werden laut Karl Brenke nicht vorfinanzi­ert, sondern dann bezahlt, wenn man sie einbaut. Statt einen Vorrat anzulegen und abzuarbeit­en, wird „Just-in-time“, also sofort mit Erhalt der Teile, produziert. Möglich gemacht hat das erst die Globalisie­rung, durch die sich jedes Unternehme­n den Zulieferer heraussuch­en kann, der am günstigste­n produziert. Früher mussten Betriebe darauf achten, ihre Rohstoffe vorzuhalte­n, um die Produktion nicht zu gefährden. „Wenn die Lieferkett­en jedoch wie derzeit in einigen Fällen reißen, bedeutet das für die Firmen ein großes Risiko“, sagt Brenke. Dass die Erfahrunge­n

Experten fürchten, dass durch zunehmende Hamsterkäu­fe ein massenpsyc­hologische­s Moment einsetzt

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